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Pas de deux. Philippe Decouflés Produktion "Nouvelles Pièces Courtes" vereint mehrere kurze Stücke.

© Laurent Philippe / Movimentos

Philippe Decouflé in Wolfsburg: Aus dem Abgrund empor

Zum letzten Mal im Heizkraftwerk: die Movimentos-Festwochen in Wolfsburg mit dem Choreografen Philippe Decouflé.

Von Sandra Luzina

Wie eine Wundertüte mutet die neue Produktion von Philippe Decouflé an. Für „Nouvelles Pièces Courtes“ schuf der französische Choreograf für seine Compagnie DCA eine Reihe kürzerer Stücke, die in Form, Stil und Stimmung variieren. Das Zusammenspiel von Tanz, Akrobatik, Musik, Text und Video ergibt eine unterhaltsame Mélange. Die Deutschlandpremiere ist am 14. und 15. April bei den Movimentos-Festwochen in der Autostadt Wolfsburg zu erleben.

„Ich versuche, so viel wie möglich das Talent der Tänzer und Artisten zu nutzen, mit denen ich arbeite. Ich möchte etwas Magisches kreieren“, sagt Philippe Decouflé. Das Gespräch findet im Pariser Théâtre National de Chaillot statt. Seine Compagnie DCA spielt vor ausverkauftem Haus. Philippe Decouflé begeistert mit seinen Produktionen ein großes Publikum. Er ist nicht nur einer der populärsten französischen Choreografen, sondern war auch einer der ersten, die Tanz und Zirkus kombinierten. Er besuchte zunächst die École du Cirque de Paris und nahm Unterricht beim Pantomimen Marcel Marceau, später studierte er bei Alwin Nikolais und tanzte dann bei Merce Cunningham in New York. „Ich versuche immer, etwas Neues zu entdecken“, sagt Decouflé. Mit der Mütze über dem widerspenstigen Haar und den bunten Hosen sieht er ein bisschen wie ein Clown aus.

Sein Faible für die Kurzform kommt vom Rock’n’Roll, erzählt er. „Als ich mit dem Choreografieren anfing, wollte ich Stücke machen, die die Länge eines Rocksongs haben.“ Mit „Nouvelles Pièces Courtes“ möchte er aber auch an die Tradition des modernen amerikanischen Tanzes anknüpfen. Choreografen von George Balanchine bis Cunningham, von Martha Graham bis Nikolais schufen Tanzabende, die mehrere kürzere Stücken kombinierten. Decouflé kommt diese Herangehensweise entgegen. Er ist ein Choreograf, der eher zu viele als zu wenige Ideen hat.

Decouflé verfremdet, vervielfältigt oder fragmentiert den Körper

Eine Szene in „Nouvelles Pièces Courtes“ trägt den Titel „Le Trou“ (Das Loch) und entfaltet eine hintersinnige Komik. Decouflé hat sie zum Andenken an seinen verstorbenen Vater kreiert. Ein Loch öffnet sich im Bühnenboden. Plötzlich taucht der Tänzer Julien Ferrante auf, wie aus dem Nichts. Zunächst sieht man nur den Kopf und Oberkörper und Arme. Er beginnt um die Achse zu kreisen, will sich emporschrauben aus dem Abgrund – und wird wieder vom Loch verschluckt. Wenn der Tänzer sich dann in die Höhe stemmt, scheinen aus seinem kräftigen Körper zarte Frauenbeine zu wachsen.

Er verfremdet, vervielfältigt oder fragmentiert den Körper, erschafft Fantasmen oder spielt mit extremen Nahaufnahmen, in denen er sich auf die Bewegungen der Augen oder des Mundes konzentriert. Oft sieht man bei ihm Hybridwesen, etwa wenn die Silhouetten von zwei Tänzerinnen verschmelzen, die wie Zwillinge erscheinen. Doch er liebt es auch, den Gesetzen der Schwerkraft ein Schnippchen schlagen. In der wunderbaren Luftakrobatik-Nummer löst sich die Tänzerin immer wieder aus der Umarmung und entschwebt in höhere Sphären. Und auch ein reines Tanzstück zu Klängen von Vivaldi hat Decouflé kreiert als Hommage an seine verstorbene Mutter. Man sieht anmutige Hebungen und wirbelnde Pirouetten, die Tänzer tragen knallbunte Kostüme mit geometrischen Mustern und einen lustigen Kopfputz.

Die Vivaldi-Nummer trägt ganz seine Handschrift. Die erste Szene aber hat er mit seinen Darstellern erarbeitet, die Multitalente sind: Raphael Cruz ist Zirkusartist, Pianist und Sänger, Violette Wanty ist Tänzerin, Sängerin und Flötistin. Sie kreieren ihre eigene Musik, während sie tanzen. Das Duo hat Philippe Decouflé später zum Trio erweitert. Auch nach der Premiere entwickelt er die Szenen weiter.

Wie es mit Movimentos weitergeht, ist ungewiss

In der Szene „Evolution“ verbindet Decouflé auf raffinierte Weise Live-Video mit vorab aufgezeichneten Aufnahmen. „Wir projizieren von links nach rechts und von rechts nach links“, erzählt Decouflé, „so dass man beide Situationen zu gleicher Zeit sieht. Das ist zwar simpel, aber es existiert nicht im wirklichen Leben, so dass etwas Surrealistisches entsteht.“ Dank der Videotechnik sieht man alle Stadien, die der Tänzer bei seiner Evolution durchläuft, auf simultane Weise. Welche Möglichkeiten sich für den Tanz durch den Einsatz von Videotechnik eröffnen, habe er durch Merce Cunningham gelernt. Als er mit 18 Jahren nach New York ging, wurde Merce Cunningham neben Alwin Nikolais sein wichtigster Mentor.

In der Autostadt waren Philippe Decouflé und seine Compagnie DCA bereits 2007 mit „Sombrero“ und 2011 mit „Octopus“ zu erleben. Sieben internationalen Spitzenensembles sind in diesem Jahr zu Movimentos eingeladen. Das Programm probt den Spagat zwischen Experiment und hochkarätiger Unterhaltung. Die 16. Ausgabe des Festivals stellt aber auch ein Zäsur dar. Denn die Tanzaufführungen werden zum letzten Mal im Kraftwerk stattfinden. Käfer-Erfinder Ferdinand Porsche hat das alte Heizkraftwerk 1939 für das VW-Werk im heutigen Wolfsburg in Betrieb genommen. Seit 2003 finden im stillgelegten Teil des Kraftwerks Tanz- und Musikveranstaltungen statt. Sting, Bryan Ferry und B.B King traten hier auf. Ab Mitte des Jahres wird das alte Kraftwerk am Kanal von Kohle auf Gas umgestellt, was gut für die Umwelt ist. Damit verliert die Autostadt aber seinen emblematischen Aufführungsort: das Kraftwerk ist es ja doch, das den Festwochen seine ganz besondere Atmosphäre verleiht.

Wie es mit Movimentos weitergeht, ist ungewiss: „Die Autostadt wird ihr kulturelles und gesellschaftliches Engagement nicht einstellen“, sagt Pressesprecher Tobias Riepe, „wir kümmern uns jetzt um die Weiterentwicklung der Formate und Orte.“ Einen Ersatz für den historischen Industriebau zu finden, wird aber nicht einfach sein. Wenn die brasilianische Grupo Corpo zum Ausklang von Movimentos am 5. und 6. Mai im Kraftwerk auftritt, dann wird sich in die Freude also womöglich auch ein wenig Trauer mischen.

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