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Mauerdrama: Augenzeuge oder Täter

Wie ein Künstler in London den Tod des Mauerschützenopfers Peter Fechter nachspielt – inklusive Atrappe der DDR-Grenze.

Von Markus Hesselmann

Schüsse krachen zwischen abgewrackten Lagerhallen im Südosten Londons. Wer gerade irgendwo in der Nähe ist, erschrickt und mag die Knallerei für einen Showdown unter Jugendgangs halten. Wer nah genug dransteht, um das Geschehen zu sehen, zuckt genauso zusammen – und versucht, sich bald wieder zu fassen. Das ist hier ist schließlich nicht die Wirklichkeit, redet man sich ein, das hier ist Kunst. Und wegen der Kunst sind sie gekommen, die Darsteller und die Zuschauer, an diesem Samstagmittag in den Vorort Woolwich, der sonst nicht gerade zu den Kulturschauplätzen der britischen Hauptstadt gehört – bekannt eher für seine Gefängnisse und Gerichte sowie für die Waffenfabrik, die dem Fußballklub Arsenal ihren Namen gab.

Als die Schüsse verhallen, liegt ein junger Mann zuckend auf dem Pflaster. Er blutet und ruft um Hilfe. Ein zweiter rennt weg. Zwei Gruppen Uniformierter legen mit ihren Gewehren aufeinander an. Erstarrt stehen sie da. Der Verblutende liegt an einer Mauer. Beton, Steine, eine Krone aus Stacheldraht – es ist die Berliner Mauer. Er wollte sie überwinden. Ein Berliner Mauerdrama spielt sich auf den Straßen Londons ab. Das Institute for Contemporary Arts (ICA) veranstaltet ein „live re-enactment“ der versuchten Flucht Peter Fechters.

Am 17. August 1962 will der Ost-Berliner Maurergeselle mit seinem Freund Helmut Kulbeik in der Nähe vom Checkpoint Charlie über die Mauer klettern. Kulbeik schafft es in den Westen, Fechter wird von Schüssen der DDR-Grenzer verwundet und bleibt im Todesstreifen zurück. Niemand hilft ihm, auch nicht die amerikanischen Soldaten von der Westseite aus. Auch dann nicht, als sich eine Menschenmenge bildet und die Uniformierten lautstark auffordert, etwas für den Verblutenden zu tun. Erst eine Stunde später transportieren die DDR-Grenzer den reglosen Körper ab. Peter Fechter ist gestorben beim Versuch, in die Freiheit zu gelangen.

Als in London die Schüsse fallen, ist Fechters Fluchtversuch genau 45 Jahre und einen Tag her. Auch hier wird in den Mittagsstunden geschossen. Ansonsten treibt es der britische Performance- Künstler S Mark Gubb, der bei einem Besuch in Berlin auf das Thema kam, mit dem Realismus nicht allzu weit. Die Mauer wirkt eher wie ein Verhau als eine Sperranlage, die Grenzer sind unrasiert und waren nicht beim Friseur. Die Augenzeugen an der Mauer tragen die Kleidung des Jahres 2007. „Ich will keine historisch getreue Nachstellung liefern“, hatte Gubb angekündigt. Dies ist kein Event für Freizeithistoriker, sondern eine Einladung zum Mitfühlen, Miterleben, Mitdenken. Wer hier dabei ist, an der Mauer entlangläuft, den Sterbenden sieht, die passiven Grenzer, die aufgebrachten Augenzeugen, der fragt sich: Wie hätte ich mich verhalten? Wäre ich genauso mutig gewesen wie jener kräftige Herr dort, der trotz der Drohungen der Soldaten nicht nachlässt, Hilfe für Fechter zu fordern? Einmal bringt er die anderen Augenzeugen sogar dazu, sich zusammenzutun und den Durchbruch zu wagen, um den schwer verletzten Mitmenschen zu retten. Wäre ich einer der Uniformierten gewesen, hätte auch ich mich auf Befehle berufen und hätte nicht geholfen – vielleicht nur aus Angst vor Schüssen von der jeweils anderen Seite? Die Linie zwischen Darstellern und Zuschauern schwindet. Der Druck, sich zu positionieren, nimmt zu.

Mit zwei Reisebussen waren die Zuschauer zum Schauplatz in Woolwich gekommen. Wie eine Stadtrundfahrt fing am ICA in der Nähe vom Buckingham Palace alles an: vorbei am Trafalgar Square, am Tower, an den Wolkenkratzern des Finanzdistrikts in den Docklands und immer weiter nach Osten. Im Bus gibt es die passende Lektüre. Der „Independent“, vom ICA kostenlos ausgelegt, druckt zufällig an diesem Tag eine Geschichte über den Verfall der East Side Gallery und den fehlenden Willen in Berlin, etwas dagegen zu tun. Die Lektüre vertreibt die Zeit auf der Anfahrt zum da noch unbekannten Ziel. Alle Zuschauer sollen gleichzeitig ankommen, das war Gubbs Wunsch. Es sollte kein Kommen und Gehen geben, sondern eine konzentrierte Performance, mitgehangen, mitgefangen – und einmalig dazu, denn wer hier und jetzt nicht dabei ist, erhält keine zweite Chance. Das liegt in der Natur des live re-enactments. Im Zeitalter der digitalen Reproduzierbarkeit nicht nur des Kunstwerks, sondern auch der Realität, wirkt dieses Genre auf eine Art anachronistisch. Auf eine andere ist es Avantgarde, denn es treibt das Spiel mit der Realität auf die Spitze. Man ist mehr drin im Geschehen als bei „Second Life“ im Internet oder im Reality-TV.

Nach der Ankunft erkunden die Zuschauer das Terrain, eine Auffahrt aus rissigem Beton und unregelmäßigem Pflaster. Rechts ein Dickicht-bewucherter Bahndamm, links eine Lagerhalle aus roten Backsteinen. Mittendrin, die Berliner Mauer. Unter den Augen der Soldaten lassen sich einige Zuschauer nieder, schrauben Thermoskannen auf, packen Sandwiches aus. Fürs Lunch müsse jeder selbst sorgen, hatte das ICA mitgeteilt.

Gerade als sich Picknickstimmung breit macht, krachen die Schüsse. Fechters Fluchtversuch ist eine Sache von Sekunden, sein Leiden dauert. Eine Stunde windet dieser Mensch sich vor Schmerzen und wimmert, bis seine Stimme erstirbt. Viel Zeit zum Mitfühlen und Nachdenken. Am Ende atemlose Stille. Die amerikanischen Soldaten treiben die Zuschauer vom Hof. Erste Reaktionen auf der Rückfahrt im Bus: Die Darsteller hätten die Zuschauer mehr animieren sollen, selbst einzugreifen, sagt einer. Wir hätten ja von uns aus mitmachen können, erwidert ein anderer. Man müsste mehr Zeit haben zu diskutieren, sagt ein Dritter. Das kommt noch. Die Performance wurde gefilmt. Im Oktober lädt das ICA zur Aufführung und Diskussion.

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