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Der Regisseur Micki Weinberg hat den ersten Abend des ID-Festivals gestaltet.

© ID-Festival

Auftakt des ID-Festivals: Utopie jetzt

„Shabbat Olam haBah“ im Radialsystem: Das israelisch-deutsche ID-Festival startet mit einer Mischung aus Lecture-Performance und Zeremonie.

Karl Marx ist sehr präsent bei diesem Schabbat, was auf den ersten Blick erstaunen mag. Für ein inniges Verhältnis zu seinen jüdischen Wurzeln, oder überhaupt zur Religion, ist der Denker aus Trier ja weniger bekannt. Aber es geht hier nicht um reine Lehren. Es ist auch kein gewöhnlicher Schabbat. Sondern ein Angebot an alle, jüdische Tradition kennenzulernen, mitzuerleben, mitzufeiern – und in die eigene Gegenwart zu übersetzen. Die Veranstaltung im Radialsystem V trägt den Titel „Shabbat Olam haBah“ und verspricht im Zusatz eine „immersive Erfahrung“. Die neue Lieblingsvokabel des Kulturbetriebs also, anzuwenden auf allzu vieles. Doch in diesem Fall hat sie nichts Prätentiöses – man wird ja tatsächlich eingemeindet.

Mit dem Feier-Abend, den Micki Weinberg gestaltet hat, eröffnet das israelisch-deutsche ID-Festival. „Shabbat Olam haBah“ ist eine Mischung aus Lecture-Performance und Zeremonie. Kerzen beleuchten die Mitte des Saales, der Hebräische Chor Berlin singt. Am Anfang stehen Zitate von Walter Benjamin. Und eben Karl Marx: „Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert. Es kommt aber darauf an, sie zu verändern“. Darin steckt schon so etwas wie der Kern des jüdischen Ruhetages, der vom Sonnenuntergang am Freitag bis zum Anbruch der Dämmerung am folgenden Samstag begangen wird. Nämlich, eine Utopie zu entwerfen nicht für das bessere Jenseits, sondern für das Hier und Jetzt. Die Zeit zu transformieren. Und damit auch die Verhältnisse. In den Worten von Abraham Joshua Heschel: „Das Ziel ist nicht, zu haben, sondern zu sein, nicht zu besitzen, sondern zu geben, nicht zu kontrollieren, sondern zu teilen“. Man muss nicht religiös sein, um das für erstrebenswert zu halten.

Weinberg, dessen Berliner Projekt Shiur sich darauf spezialisiert hat, jüdische Tradition auf moderne Art lebendig zu halten, ist selbst sehr weltlich unterwegs. Zum Stichwort Ekstase fällt ihm eine Nacht im Berghain noch vor der göttlichen Verzückung ein. Und auch die Engel, die beim Schabbat gerufen werden, sollte man nach seiner Ansicht nicht allzu wörtlich begreifen – gemeint sein können damit auch die Kräfte des Körpers. Das demonstrieren an diesem Abend Joel Stumpf und seine „Massage-Engel“, ein Team, das die Teilnehmenden zu Atem- und Entspannungsübungen anleitet. Ein Schuss New Age im Schabbat, der aber klassisch ausklingt: mit koscherem Wein und dem gemeinsamen Brechen des Brotes. Ein denkbar schöner Auftakt des Festivals (bis 18. 10.).

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