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Der öffentliche Intellektuelle. Karl Schlögel, Geschichtsfeldforscher.

© picture alliance / dpa/Arni Burgi

Karl Schlögel zum 70.: Auf dem Weg zur Mitte Europas

Mit 18 Jahren kam er zum ersten Mal in die damalige Sowjetunion. Russland hat ihn nicht mehr losgelassen. Zum 70. Geburtstag des Historikers Karl Schlögel.

Er ist Historiker, kein Anthropologe, und doch muss man sich Karl Schlögel als Feldforscher denken. Wie kein Zweiter seiner Zunft rückt er – salopp gesagt – den Orten, ihren Bewohnern und den von Menschen gemachten Dingen und Zuständen auf die Pelle. Er muss den Klang der Städte hören, ihren Geruch atmen, ihre Narben sehen und spüren. Narben sind es zumeist. Sie sind überall, wo Schlögel forscht: im Osten Europas, der für uns Westler schon an der Weichsel beginnt, während für Schlögel hingegen noch weit ostwärts Mitteleuropa ist, vergessenes Mitteleuropa vergangener Zeiten.

Mit 18 Jahren kam Schlögel, geboren 1948 und aufgewachsen in einem Dorf im Allgäu, erstmals in die Sowjetunion. Russland hat ihn nicht mehr losgelassen. Sein jüngstes Buch, das die Summe zieht aus zahllosen Reisen, Begegnungen und Studien, „Das sowjetische Jahrhundert“, fasst die jahrzehntelange Beschäftigung mit Russland zusammen. Schlögel ist in die Rolle des Zeitzeugen hineingewachsen, der mit seinem Gegenstand lebt. 1969 kam er zum Studium der osteuropäischen Geschichte und Slawistik nach (West-)Berlin und hat seither hier seinen Lebensmittelpunkt.

Seine politische Vergangenheit als Mitglied der maoistischen KPD/AO ist – zumal für ihn selbst – lange her; aber sie hat ihn sensibilisiert für die Verheerungen von Ideologien. Seither ist Schlögel ideologiefrei – und geradezu wirklichkeitssüchtig. Er hat die russische Hauptstadt erkundet („Moskau lesen“, 1984), dann deren Vorgängerin St. Petersburg als „Laboratorium der Moderne“ („Jenseits des Großen Oktober“, 1988), hat die russische Emigration, unter anderem nach Berlin, in mehreren Büchern dokumentiert. Schließlich verdichtete er seine Beschäftigung mit dem Stalinismus in dem grandiosen Zeitpanorama „Terror und Traum. Moskau 1937“ (2008), das zu zeigen versucht, wie die Stalin-Diktatur geschehen und ihre Gewaltherrschaft ausüben konnte. Über allem steht die Grundeinsicht, dass Geschichte sich in konkreten Räumen, an konkreten Orten ereignet, dass sie nie abstrakt ist, sondern Spuren hinterlässt.

Vernichtende Kritik an der Putin’schen Machtpolitik

Dafür regnete es Preise, angefangen mit dem Essay-Preis des Tagesspiegel (1986); alle aufzuzählen, sprengte den Rahmen. Erwähnt sei nur der Preis des Historischen Kollegs München (2016), der als bedeutendster deutscher Historikerpreis alle drei Jahre vergeben wird – da muss sich einer schon lange auf der Kandidatenliste behauptet haben.

Dass Karl Schlögel – fast möchte man sagen „nebenbei“ – auch noch Professor war, muss erwähnt werden: zunächst in Konstanz und anfangs misstrauisch beäugt von der Zunft, weil er nicht die übliche akademische Ochsentour durchlaufen hatte, dann von 1995 bis zur Emeritierung 2013 an der Viadrina in Frankfurt an der Oder, also unmittelbar an einer der Nahtstellen Europas. Im Gespräch ist er keiner, der vorschnell formuliert, sondern auch da – wie in seinen Schriften – vorsichtig abwägt. Dennoch – oder gerade deshalb – ist er zu einem „öffentlichen Intellektuellen“ geworden, zuletzt in Sachen Ukraine, deren jüngstes Schicksal ihn schockiert hat. Aber dabei blieb er nicht stehen, er fuhr hin und besuchte die umkämpfte Grenzregion von beiden Seiten. Seine Kritik der Putin’schen Machtpolitik fällt vernichtend aus.

Sein 900-Seiten-Buch über das sowjetische Jahrhundert trägt den Untertitel „Archäologie einer untergegangenen Welt“. Eine bessere Beschreibung dessen, was er treibt und was ihn umtreibt, gibt es nicht. Heute feiert Karl Schlögel seinen 70. Geburtstag.

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