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Porträtiert verlorene Seelen. Der Schweizer Schriftsteller Incardona.

© z.V.g.

„Asphaltdschungel“ von Joseph Incardona: Die Gefangenen der Autobahn

Ein Mädchen verschwindet, ein Entführer wird gejagt: Joseph Incardonas Thriller „Asphaltdschungel“ ist rasant und düster.

Es gibt wenige Orte, die es mit der Trostlosigkeit einer Raststätte im Hochsommer aufnehmen können. Vor den Tanksäulen warten Autos in langen Schlangen, auf den Toiletten riecht es übel, das Essen ist schlecht und teuer. Joseph Incardonas fulminanter Kriminalroman „Asphaltdschungel“ spielt nahezu vollständig auf Raststätten und Parkplätzen oder in Motels, die an der französischen Autobahn liegen (Lenos Verlag, 339 Seiten, 22 €).

In einem sehr heißen August geht zwischen den Touristen, Pendlern und Fernfahrern, die sich dort begegnen, ein 12-jähriges Mädchen verloren, das nur kurz aus dem Restaurant herausgetreten war, in dem seine Eltern miteinander stritten. Marie taucht nicht wieder auf, genauso wenig wie zwei weitere Mädchen, die vor ihr verschwanden. Die Raststätte, vor der Marie entführt wurde, wird zur „Einschlagstelle“, zu einem „Ort, der alles aus den Angeln gehoben hat“.

In Deutschland ist Incordano noch fast unbekannt

„Asphaltdschungel“ ist ein Roman noir der allerschwärzesten Art, die Chancen, das Kind zu retten, sind von Anfang an verschwindend gering. Zwar löst die Polizei schnell ihr Entführungsalarmsystem aus, das „Leuchtturmprojekt von Oberstaatsanwalt, Ermittlungsbeamten und Justizministerium“, lässt Spürhunde nach dem Opfer suchen und beginnt, LKWs und Wohnmobile zu durchsuchen. Doch bei Entführungen, das wissen die Fahnder Julie Martinez und Thierry Gaspard aus der Kriminalstatistik, ist die erste Stunde nach der Tat entscheidend. Und während der Strom der Autos, der an den Polizisten vorbeizieht, nicht abreißt, verstreicht Stunde um Stunde. „Was bleibt uns noch?“, fragt Martinez. „Ein Glückstreffer“, antwortet Gaspard.

„Hinter den Straßenschildern existieren Menschen“ lautet der Originaltitel des Romans. Der Schweizer Schriftsteller Incardona, der bereits ein Dutzend Bücher in Frankreich veröffentlicht und einen Spielfilm gedreht hat, in Deutschland aber noch nahezu unbekannt ist, porträtiert einige dieser Menschen. Es sind verlorene Seelen, die ein Schicksalsschlag aus der Bahn geworfen hat. Die Autobahn ist ihr Gefängnis. Pierre Castan, ein ehemaliger Gerichtsmediziner, sucht nach der Leiche seiner Tochter, die vor einem halben Jahr verschwand. Die Monate, die er mit der Jagd nach ihrem Phantom verbracht hat, haben ihn „kleingehäckselt“. Sein Credo lautet: „Hass ist gut, er hält dich am Leben“.

Showdown im Stau

Jacques Baudin, ein Straßenwart, hat im Gebüsch hinter einem Parkplatz eine Hütte gebaut, in der er Kram hortet, den er bei der Arbeit findet. Die Bücher von Georges Simenon oder Stephen King, die ihm in die Hände gefallen sind, liest er nicht: „Das steht mir nicht zu.“ Tia Sonora ist vor den Drogenkartellen aus Mexiko geflohen und lebt nun vom Tarotkartenlegen und Gelegenheitsprostitution. Sie weiß: „Die Tragödie kommt häufiger vor als das Glück“. Die seltsamste Figur in diesem Panoptikum aber ist Pascal, der als Koch in einem Rasthof arbeitet. „Jedes Jahr sieht er Hunderte, Tausende, Zehntausende Gesichter“, so wird er eingeführt. „Nur ihn sieht niemand. Sie sehen bloß das Essen hinter dem Spuckschutz der Theke, die riesengroße Speisekarte hinter ihm, die Reklame, die Tagesangebote.“ Seit einem Motorradunfall hat Pascal das Gehör verloren. Auf seinen Kopf ist ein Reißverschluss tätowiert, und manchmal, wenn die Schmerzen zurückkehren, steigt das Böse daraus empor.

Der Plot von „Asphaltdschungel“ erinnert an einen Klassiker der Schweizer Kriminalliteratur, Friedrich Dürrenmatts Roman „Das Versprechen“, in dem ein Psychopath an einer Schnellstraße Mädchen ermordet. Allerdings schreibt Incardona wesentlich rasanter als der bedächtige Dürrenmatt, mitunter steigern sich die Gedanken, Beobachtungen und Empfindungen seiner Protagonisten zu einem wilden Stakkato aus Wörtern und Halbsätzen. Einer von ihnen, der Raststätten-Pächter Gérard Lucino, hat Geld unterschlagen, jagt in seinem Alfa Romeo über die linke Spur, will zum Flughafen und weiter nach Thailand. Aber der Autobahn entkommt in dieser düsteren Geschichte keiner. Der Showdown findet in einem Stau statt. Rasender Stillstand.

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