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Träumer. Arthur Schnitzler. Foto: p-a/dpa

© picture alliance / dpa

Literaturjubiläum: Anschwellende Panikgesänge

Hedonist, Hypochonder und Frauenversteher: Zum 150. Geburtstag des Schriftstellers Arthur Schnitzler.

Arzt, Erfolgsautor, Frauenheld – Arthur Schnitzler war ein Sieger, eine Größe des kultivierten Wien. Zugleich aber war er vertraut mit Unsicherheiten, Anfechtungen, Haltungsverlusten, psychischen Wasserschäden aller Art. Diese Labilität, die er im beruflichen und erotischen Alltag gut zu überspielen wusste, war das Material seines Schreibens. Er war ein hypochondrischer Hedonist und gehörte zu jenen, die in jedem Gesicht den Totenkopf sehen. Vergeblichkeit und Vergänglichkeit sind die Mollakkorde, über denen er seine literarischen Melodien komponierte. Schon seine erste größere Erzählung hieß „Sterben“ – es geht um eine zerbrechende Liebe im Schatten des Todes. Sein Drama „Das weite Land“ rühmte Alfred Polgar als „wohlorganisiertes Konzert der Würmer im Holz“ – aber Schnitzlers Morbidität war nicht wienerisch manieriert, sondern existenziell.

Er war der Meister eines eleganten, beiläufig seelenschürfenden Parlandos. Nie wurde ein Autor unangestrengter zum formalen Revolutionär als Schnitzler, der mit seiner abgründig komischen Novelle „Leutnant Gustl“ (1900) den Inneren Monolog in die deutschsprachige Literatur einführte – als naturnotwendige Erzähltechnik, um den panischen Seelenzustand eines Uniformträgers aufzublättern, der sich von einem nicht satisfaktionsfähigen Bäckermeister in seiner Ehre gekränkt glaubt und nur noch den Ausweg des Selbstmords sieht: Innenweltdarstellung als Gesellschaftsanalyse.

Immer wieder wurde der jüdische Autor antisemitisch angefeindet, vor allem nach seinem Skandalstück „Der Reigen“. Zehn Szenen, die zehn Seitensprünge in Nahaufnahme zeigen – wobei zwischen Anbahnungsdialog und postkoitalem Geplauder ein Strich die eigentliche Vereinigung in aller Deutlichkeit andeutet. Zehnmal wird der rasenden Vergänglichkeit ein Fetzen mehr oder weniger schaler Lebenslust entrissen, prallen männliche und weibliche Erwartungen aufeinander – das erotische Getümmel als Gedränge von Einsamkeiten. Keiner konnte das so beschreiben wie der sexsüchtige Schnitzler, der in seinen besten Zeiten immer drei Affären gleichzeitig zu koordinieren hatte. Auf die Bühne kam das Stück erst in den frühen zwanziger Jahren, unter Protestaufmärschen, Stinkbombenwürfen, Prügeleien und Polizeieinsatz.

Der manchmal grobschlächtige Schürzenjäger leistete in seinen Werken Wiedergutmachung als subtiler literarischer Frauenversteher: Er drehte die Perspektive und fasste aus weiblicher Perspektive das männliche Begehren mit seinen Strategien und Grimassen ins Auge. Besonders eindrucksvoll in seinem späten, jetzt zum 150. Geburtstag wiederaufgelegten Roman „Therese“, einem anfangs als „Gouvernantenroman“ unterschätzten Meisterwerk. Therese schlägt sich durch einen Dschungel an materieller Not und Lieblosigkeit; als Erzieherin wechselt sie ständig die Stellen, weil in jedem der bürgerlichen Haushalte etwas schief läuft und das Begehren der Herren von den lustlosen Ehefrauen auf die junge Gouvernante überspringt: ein in der Repetition beinahe absurdes, überaus pessimistisches Panorama der Normalität.

Für Spezialisten gibt es eine kommentierte Edition der über 600 Träume, die der Autor verstreut in seinen Tagebüchern notierte („Träume“, Wallstein, 493 S., 34,90 €). Die Schnitzler-Hörspiel-Edition (Hörverlag, 8 CDs, 29,99 €) versammelt Produktionen aus den fünfziger und sechziger Jahren, erstaunlich wenig angestaubt, dank vorzüglicher BurgtheaterStimmen. Schon durch die Abschattungen und Pointierungen des Wienerischen gewinnen die Dialoge an Charme und Witz hinzu, was vor allem dem „Reigen“ zugutekommt.

Sehr lesenswert ist „Fräulein Else“, nach „Leutnant Gustl“ die zweite Novelle im Inneren Monolog, wiederum ein anschwellender Panikgesang. Else macht Ferien in Italien; da kommt ein Expressbrief von der Familie: Der Vater, ein Rechtsanwalt, habe Gelder veruntreut und werde verhaftet, wenn Else nicht den reichen Kunsthändler Dorsday um ein Darlehen angehe. Dorsday aber ist ein Lebemann, der für sein Geld nackte Haut sehen will – und es kommt einer bürgerlichen Selbstsprengung gleich, dass der ruinierte Vater seine Tochter für diesen Handel preisgibt. Leichthändig schafft Schnitzler eine Konstellation, die bei Elsa den inneren Notstand auslöst: Scham und Schuld, Begehren und Aufbegehren, Angst und Erregung überlagern sich, bis sie eine Überdosis Schlaftabletten schluckt.

Wenig später, im Sommer 1928, erlebte Schnitzler die schlimmstmögliche Wendung der Dinge, als seine Tochter Lili sich in einer ähnlichen Kurzschlusshandlung in Venedig erschoss – mit dem Revolver ihres Mannes Arnoldo Cappellini, einem todschicken Faschisten. Auf dem Gipfel des Ruhms war Schnitzler ein gebrochener Mann: „Mit jenem Julitag war mein Leben zu Ende.“ Er starb 1931.

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