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In der amerikanischen Wildnis müssen sich Abigail (Katherine Waterston, links) und Tallie (VanessaKirby) gegen ihre Männer verbünden.

© Bleecker Street/Vlad Cioplea

Amerikanisches Independentkino: Schneesturm der Gefühle

Das Kino Arsenal zeigt Entdeckungen aus dem amerikanischen Independentkino. Die Reihe „Unknown Pleasures“ füllt eine wichtige Lücke aus.

Von Andreas Busche

Mitte des 19. Jahrhunderts lebt es sich in den Wäldern von Upstate New York noch wie in einer Kapsel, die Welt ist unvorstellbar weit entfernt. Sie besteht aus steinigem Ackerland, wilder Natur und der Wärme des Feuers. Die Siedlerfrau Abigail (Katherine Waterston) hat nur eine vage Vorstellung von dem, was sie hinter den Bergen erwartet, aber ihre Fantasie kennt keine Grenzen. Der Atlas, den die neue Nachbarin Tallie (Vanessa Kirby) ihr gibt, ist mehr als ein Geschenk, er fungiert als Symbol für die Verschwörung der beiden Frauen.

„The World To Come“, das Debüt der norwegischen Regisseurin Mona Fastvold, kündet von einem Versprechen, wo trotz der weiten Landschaft wenig Platz für Hoffnung bleibt. Abigail hat ihr Kind an die erbarmungslose Natur verloren, mit dieser Trauer lässt Dyer (Casey Affleck) seine Frau allein; er will, ganz im Pioniergeist, das Land bezwingen. Die Freundschaft mit Tallie entschädigt für die Kälte in ihrer Ehe – und die der Natur, die ihre Schneestürme mit der Gewalt von Lokomotiven schickt, wie sie aus dem Off bemerkt. Der legendäre Freejazz-Saxofonist Peter Brötzmann bläst in den Schneeböen zum Sturm, in der Hütte spiegelt sich das Kaminfeuer in den Augen der Frauen. Ihre Zeit ist gekommen.

Fastvolds zärtlicher Beitrag zum wachsenden Genre des feministischen Westerns lief 2020 im Wettbewerb von Venedig, wo Vanessa Kirby mit ihrem anderen Film „Pieces of a Woman“ alle Aufmerksamkeit auf sich zog. Der stille „The World To Come“ ist, im Gegenteil, keine One-Woman-Show. Kirby und die viel zu selten gewürdigte Waterston nähern sich über Blicke und Berührungen in einer Welt an, die für ihre Gefühle noch kein Konzept kennt. Die unerschrockene Tallie ist die wahre Pionierin. „Hast Du mich vermisst?“, fragt sie ihre schüchterne Freundin, die ihren Gefühlen nur in Tagebucheinträgen Ausdruck verleiht.

Das Festival „Unknown Pleasures“ identifiziert seit zwölf Jahren verlässlich die besten, zu Unrecht unterschlagenen Filme des amerikanischen Independentkinos. „The World To Come“ ist nicht das einzige Highlight. Diego Ongaros „Down with the King“ über einen erfolgreichen Rapper, gespielt vom Rapper Freddie Gibbs, der seine Blockade in einer Landkommune zu überwinden versucht, und Skinner Myers’ formensprengende Sozialsatire „The Sleeping Negro“ erzählen aus ganz unterschiedlichen Perspektiven von der schwarzen Erfahrung in Corporate America.

Das schönste Geschenk aber ist – man kann es nicht genug würdigen – die vor einem Jahr verstorbene Joan Micklin Silver. 1977 war sie mit der Journalisten-Komödie „Between the Lines“ im Berlinale-Wettbewerb, in den New-Hollywood-Kanon hat sie es trotzdem nicht geschafft. Eine viel zu späte (Wieder-)Entdeckung. (Bis zum 19. Januar im Arsenal)

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