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Der Fotograf Nick Waplington fotografierte für seine Serie „Settlement“ von 2011 jüdische Siedler im Westjordanland.

© Nick Waplington

Alltag im Jüdischen Museum: Haus der Fragen

Kritiker werfen dem Jüdischen Museum in Berlin vor, es vertrete falsche Interessen. Wer den Bau besucht, erlebt große Vielfalt und anregende Spannung.

Bei den Fahrradständern ist kein Platz mehr frei. Das Jüdische Museum Berlin ist eineinhalb Wochen nach dem Rücktritt von Direktor Peter Schäfer gut besucht. In den Gängen murmelt es, Deutsch, Englisch, Spanisch. Schulklassen, Touristen mit Audioguides. Von einem der Angestellten, die alle den rot-weißen Schal in den Farben Berlins tragen, lässt sich eine Seniorin den Weg erklären. Völlige Normalität. Die Besucher scheinen von der Krise hinter den Kulissen nichts mitbekommen zu haben. Müssen sie auch nicht. Der Betrieb läuft weiter.

Es hat viele Missverständnisse in den letzten Wochen und Monaten gegeben. In dem Streit sind grundlegende Fragen aufgeworfen worden, die nach Antworten drängen: Wie sehr muss ein Jüdisches Museum, das vom deutschen Staat getragen wird, die politischen Sichtweisen der israelischen Regierung berücksichtigen? Wie sehr darf, kann und soll das Museum Forum für widersprüchliche Meinungen sein? Muss die Leitung selbst jüdisch sein? Wie soll sich die Beziehung zu den jüdischen Gemeinschaften in Deutschland gestalten, vor allem auch zum Zentralrat, der im Stiftungsrat des Museums vertreten ist?

Die Architektur des Hauses spiegelt die Brüche der jüdischen Geschichte

Das alles muss vorerst in der Schwebe bleiben. Vielleicht wird es auch nie richtig gelöst. Das Disparate, die Brüche der jüdischen Geschichte und zugleich die Leidenschaft, mit der im Judentum diskutiert und debattiert wird, sind bereits kongenial in der Architektur des Hauses widergespiegelt. Die lebt von der Spannung, die aus der Nachbarschaft zweier extrem unterschiedlicher Häuser entsteht. Der gelbe Altbau von 1735, das ehemalige Kollegienhaus, ist eines der ganz wenigen Gebäude in diesem von Krieg und Nachkriegszeit umgepflügten Viertel, die erhalten sind und in sich die Erinnerung an den barocken Stadtgrundriss bergen. Daneben der weltberühmte Neubau mit silbern schimmernder Titan-Zink-Fassade von Daniel Libeskind, 1999 eröffnet, der auf einen zerbrochenen Davidstern anspielt. Ursprünglich war das Jüdische Museum eine Abteilung des im Kollegienhaus untergebrachten Berlin-Museums, wuchs sich dann zu einem eigenständigen Institut aus, was politisch so gewünscht war.

Ein durch einen schmalen Spalt beleuchtete Turm

Besucher betreten das Museum durch den Altbau, werden anschließend aber sofort ins Untergeschoss des Neubaus gelenkt, wo sie die Wahl zwischen drei Achsen haben. Eine führt hinaus ins Freie, aber nicht unbedingt in die Sicherheit: Der Garten des Exils ist auf abschüssigem Grund errichtet. Eine andere, die Achse des Holocaust, führt ins Nichts, in einen schwarzen, nur durch einen schmalen Spalt beleuchteten Turm. Allein auf der dritten Achse, der Achse der Kontinuität, gelangt man über eine lange Treppe hinauf zur Dauerausstellung. Der Weg ist beschwerlich, muss es aber sein, denn er vollzieht die jüdische Geschichte der letzten 2000 Jahre symbolhaft nach.

Die bisherige Dauerausstellung wurde abgebaut, sie galt als überladen, funktionierte nicht gut in den minimalistischen Libeskind-Räumen. Die neue soll 2020 eröffnet werden und wird mit Sicherheit wieder für neuen Streit sorgen.

Aber auch ohne sie ist das Haus belebt, dafür sorgen kleinere Ausstellungen und Installationen. Konzeptkünstler Mischa Kuball bespielt in „resonant“ zwei der fünf Voids – Schächte, die den Libeskind-Bau von oben nach unten durchziehen – mit Projektoren, Stroboskop-Blitzen und Sound. Dadurch erzielt er eine Wechselwirkung zwischen Architektur und der eigenen Haut.

"This Place" zeigt Fotos aus Israel und Palästina

„A wie Jüdisch“ stellt markante Elemente jüdischer Kultur wie Tora oder Hummus vor anhand des Alef-Bet, der 22 Buchstaben des hebräischen Alphabets. Wichtigste Attraktion ist aber seit Anfang Juni die Fotoausstellung „This Place“ im Obergeschoss. Es sind die gleichen Räume, in denen bis vor Kurzem die Ausstellung „Welcome to Jerusalem“ gezeigt wurde, die Israels Premier Benjamin Netanjahu wegen angeblich zu großer Palästinensernähe so missfiel, dass er 2018 einen direkten Brief an Bundeskanzlerin Angela Merkel schrieb. Der frühere grüne Bundestagsabgeordnete Volker Beck hat die Ausstellung als „hanebüchen“ bezeichnet.

„This Place“ dürfte Beck oder Israels Regierung ebenfalls nicht gefallen. Denn wie in der Jerusalem-Ausstellung wird auch hier ein vielschichtiges, komplexes Bild präsentiert. Der französische Fotograf Frédéric Brenner hat zwölf Fotokünstler – keiner von ihnen ist israelisch oder palästinensisch – eingeladen, Israel und Palästina in Bildern einzufangen. „This Place“, dieser karge Landstrich am Mittelmeer, ist einer der religiös, militärisch, kulturell am meisten umkämpften der Welt. Brenner selbst eröffnet das Spektrum, das sich zwischen der streng religiösen, am Tisch sitzenden Familie Weinfeld und der säkularen, am Strand entlangschlendernden Familie Aslan Levi aufspannt, deren Tochter gleichwohl Uniform trägt.

Wendy Ewald praktiziert „partizipative Fotografie“, sie lädt Menschen ein, sich selbst zu fotografieren. Jeff Wall ist mit einem einzigen Bild vertreten: beduinische Olivenplücker, die vor einem Gefängnis in der Negev-Wüste schlafen.

Josef Koudelka hat in Ost-Jerusalem fotografiert

Silwan, ein palästinensisches Viertel in Ost-Jerusalem, ist als Motiv sehr beliebt, vielleicht wegen der dramatischen Hanglage dem Tempelberg gegenüber, vielleicht auch, weil man nicht weit in die Westbank hinein fahren muss, um es zu fotografieren. Was Josef Koudelka getan hat. Die in einer langgestreckten Vitrine präsentierten Schwarz-Weiß-Bilder des 81-jährigen Tschechen zeigen die Absurditäten der Sperranlage, die Israel vom Westjordanland trennt. Und hinterlassen den stärksten Eindruck: zwei Völker, ein Gefängnis, Israel mauert sich selbst ein.

Diese Interpretation behagt nicht jedem. Zwei Räume weiter hängen die Bilder von Nick Waplington, der 200 jüdische Siedlerfamilien fotografiert hat. Man blickt in die Gesichter von Menschen, nicht von landraubenden Monstern. Und verlässt die Ausstellung mit der Frage, ob Israel und die Palästinensergebiete in all ihrer Mehrdeutigkeit am Ende selbst das größte Kunstwerk sind.

Das Jüdische Museum prägt ein ganzes Stadtviertel

Der Lichthof des Altbaus ist gesperrt, Tische werden aufgebaut für einen Empfang am Abend. Das Museum ist beliebt als Veranstaltungsort, einmal im Jahr zum Beispiel für das Kammermusikfestival „Intonations“. Entspannen kann man sich auf Liegestühlen im rückwärtigen Garten, wo auch deutlich wird, dass das Jüdische Museum ein ziemlich großes Areal abdeckt und ein ganzes Stadtviertel prägt – auch mit dem Ausgreifen auf die andere Seite der Lindenstraße, wo die Akademie in der ehemaligen Blumengroßhalle eröffnet wurde.

Im Café wieder Gemurmel und Stimmen. „I’m going to New York this year“, „My father is polish, my grandfather came from Cologne“. Ein Schild an der Wand will aufklären, was „koscher“ bedeutet. „Es ist sehr einfach“, steht da, „wenn Milch von Fleisch getrennt wird, ist es koscher.“ Heißt das, dass vegetarische Küche immer koscher ist? „Je mehr ich weiß, umso mehr weiß ich, dass ich nichts weiß“, hat Albert Einstein gesagt. Was wäre das auch für ein Museum, das man nicht mit neuen Fragen verlässt?

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