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Stau in Los Angeles. das Buch beginnt mit einem Verkehrsunfall mit Fahrerflucht.

© AFP

Laila Lalami und ihr Roman „Die Anderen“: Alles, was ich nicht tat

Laila Lalamis Roman „Die Anderen“, eine Mischung aus Familiengeschichte und Court-Room-Drama, erzählt von der brutalen postmigrantischen US-Gegenwart.

Es passiert in einer Aprilnacht, vor maximal amerikanischer Kulisse. Ein Diner im ländlichen Kalifornien, daneben eine Bowlingbahn. Kaum Menschen, viel Wüste. Driss Guerraoui hat keine Chance, dem Auto auszuweichen. Während er leblos im Licht des Neonschildes liegt, das er neulich erst, um sich einen amerikanischen Traum zu erfüllen, über seinem Restaurant angebracht hat, flieht der Fahrer unerkannt. Zeugen scheint es keine zu geben, der Fall damit erledigt.

Ein einsames Land, so schön wie misanthropisch, eine Trockenlandschaft aus Josuabäumen, Yuccapalmen und Gebirge, ist Schauplatz von Laila Lalamis viertem Roman „Die Anderen“ – ihrem ersten, der auf Deutsch erscheint. Auch auf dem hiesigen Buchmarkt literarisiert die marokkanische Diaspora gerade die Differenz, die ihrer Herkunft innewohnt oder im westlichen Anderswo entsteht.

Geboren in Rabat

Kürzlich erschien „Eine fremde Tochter“ der marokkanisch-spanischen Autorin Najat El Hachmi. Im Mai soll der Roman „Das Land der Anderen“ der wie Laila Lalami in Rabat geborenen Leïla Slimani folgen. Doch anders als Slimani, die auf Französisch schreibt und deren titelverwandtes Buch als historischer Roman angekündigt ist, verhandelt Lalami in „Die Anderen“ eine postmigrantische amerikanische Gegenwart.

Wobei man etwas präzisieren muss, denn die Handlung spielt, wie gleich der erste Satz betont, „vor vier Jahren“. Der im Original 2019 erschienene Roman klammert Donald Trump aus, was eine nicht zwingend negative Irritation ist, denn so offenbart er viel über den islamophoben Kleinstadtrassismus der Bush-Jahre, wie er noch in die Barack-Obama-Ära hineinragt (und im MAGA-Weltbild schließlich zu neuer Blüte finden wird).

„Ich hatte in dieser Stadt früh gelernt, dass die Brutalität eines Mannes mit Namen Mohammed nur selten in Zweifel gezogen wurde, seine Menschlichkeit dagegen immer erst bewiesen werden musste“, erklärt Nora, die Tochter des Verstorbenen. Sie glaubt nicht an einen Unfall. Zu feindselig hat Anderson Baker, der Besitzer der benachbarten Bowlingbahn, sich zuletzt gegenüber ihrem Vater verhalten, immer an der Grenze zum Rassismus, manchmal klar drüber.

Bürger zweiter Klasse

Tatsächlich kann die Polizei Baker als den flüchtigen Fahrer identifizieren. Vor Gericht wird Nora jedoch klar, dass nicht gewinnen wird, wer die Wahrheit sagt, sondern wer die bessere Geschichte vorträgt. Und Baker genießt einen narrativen Heimvorteil: Er ist weiß, 78, Familienunternehmer, Vietnamveteran. Nora und ihre aus Marokko stammende Familie sind das, was Laila Lalami in einem kürzlich auf Englisch erschienenen Memoir „konditionale Staatsbürger“ nennt: Hinzukömmlinge.

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Der Fall wird vor einem Geschworenengericht ausgetragen, der Gewalt also, die in den USA „a jury of one's peers“ heißt, eine Jury aus dem Angeklagten Gleichgestellten. Damit ist die Kernfrage des Romans benannt: Wer ist wessen „peer“? Lailami macht den Leser gleichsam selbst zum Geschworenen, indem sie ihn die Ereignisse von neun Ich-Erzählern erfahren lässt, die gewissermaßen konkurrierende Zeugen sind. Sie alle empfinden sich als Außenseiter. Nora kommt häufig zu Wort, ihre Mutter, die ermittelnde Polizistin, der Angeklagte, dessen nicht minder rassistischer Sohn. Sogar Driss, der Verstorbene, erzählt seine Einwanderungsgeschichte aus dem Casablanca der achtziger Jahre.

Als "Kameltreiber" beschimpft

In seinen besten Passagen macht „Die Anderen“ nicht nur die Distanz zwischen einheimischer und immigrierter Bevölkerung sichtbar, sondern auch jene zwischen Eltern und Kindern, wenn eine Migrationserfahrung sie voneinander trennt: „Unsere Familie war wie ein Teeservice aus dem Spendenladen – immer fehlte ein Teil.“ Mit Noras Rückkehr in ihren Heimatort treten all die unausgetragenen Konflikte zutage, die die angehende Jazzkomponistin mit ihrem Wegzug in die Großstadt für erledigt hielt.

Nora begegnet auch ihrem alten Schulfreund Jeremy, der inzwischen bei der örtlichen Polizei arbeitet, die die Ermittlungen zum Tod ihres Vaters führt. Schlagartig ändert sich ihr Blick auf Jeremy, als sie erfährt, dass er zuvor als Soldat im Irak war: „Dasselbe Auge, mit dem er früher verschmitzt geblinzelt hatte, während er auf kleinen Zetteln Nachrichten durch die Klasse schickte, hatte in aller Ruhe Menschen durch ein Zielfernrohr beobachtet.“ Als Nora ihm erzählt, dass ausgerechnet Anderson Bakers Sohn ihr kurz nach 9/11 die Verhetzung „Kameltreiber“ auf den Schulspind geschmiert hat, verschweigt Jeremy lieber, dass er selbst im Irak öfter solche Worte im Munde führte.

[Laila Lalami: Die Anderen. Roman. Aus dem Amerikanischen von Michaela Grabinger. Verlag Kein & Aber, Zürich 2021. 432 Seiten, 24 €.]

Literarisch wird dieser als Krimi getarnte Gesellschaftsroman seiner spannungsreichen politischen Prämisse leider nicht immer gerecht. Die Vielstimmigkeit wirkt gelegentlich bemüht, weil einige Figuren, vornehmlich Anderson Baker und Sohn, selbst in erster Person eindimensional bleiben. Auch die Handlung ist mitunter vorhersehbar, was vor allem für die Liebesgeschichte zwischen Nora und Jeremy gilt, die als solche sofort erkennbar ist. Es muss und wird zum Kuss kommen, und der Vollzug geschieht bedauerlicherweise im Mondschein unter einem Baum in der Wüstenwildnis.

Der Ausgang des Gerichtsverfahrens sei hier nicht verraten. Nur so viel: Es stellt sich heraus, dass es in der Aprilnacht doch einen Zeugen gab. Der aber will als undokumentierter mexikanischer Immigrant nicht zur Polizei gehen, um seine Kinder zu schützen. Von ihm stammen nur die Sätze über die Entsagungen der Migration: „Alles, was ich tat, machte ich für sie. Oder alles, was ich nicht tat, besser gesagt.“

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