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Türkisches Begleitkommando im deutschen Auftrag.

© Preußen-Museum, Wesel

Abenteuerroman von Jakob Hein: Als der Kaiser den Dschihad befahl

Eine wilde Geschichte, eingebettet in die Wahnvorstellungen ihrer Zeit: Jakob Heins Roman über eine bizarre Orient-Mission im Ersten Weltkrieg.

Diese verrückte Geschichte ist tatsächlich passiert. Überdies war sie kein Einzelfall, sondern Teil eines umfassenden Planes, den der Orientalist, Abenteurer und Diplomat Max Freiherr von Oppenheim ersonnen hatte. Sein 1914 verfasstes Strategiepapier, „betreffend die Revolutionierung der islamischen Gebiete unserer Feinde“, begeisterte Wilhelm II. Seit seiner großen Orientreise 1898 verstand er sich als Freund und Beschützer aller Muslime und setzte, statt kolonialer Macht, auf schnell wachsende Wirtschaftsbeziehungen.

Auf seinen direkten Befehl richtete das Auswärtige Amt eine Orient-Abteilung ein, in der viele abenteuerliche Pläne zur Schwächung der Kolonialmächte ersonnen wurden. Vor allem sollten sich die Muslime weltweit erheben und einen „Heiligen Krieg“ (Dschihad) mit Attentaten und Sprengstoffanschlägen beginnen. Das Kaiserreich war restlos überzeugt von seiner strategischen und technischen Überlegenheit: Deutsche Ingenieure hatten die Bagdad-Bahn gebaut, ebenso würden deutsche Militärstrategen einen Dschihad planen und verwirklichen – heute eine schreckliche Vorstellung, damals eine eher unschuldige Idee?

In seinem sorgfältig recherchierten Abenteuerroman „Die Orient-Mission des Leutnant Stern“ erzählt Jakob Hein von einer der fantasievollsten Aktionen des Ersten Weltkrieges. Die kalten Fakten sind nachzulesen in den Erinnerungen des Publizisten Edgar Stern-Rubarth („Aus zuverlässiger Quelle verlautet“), aber die emotionale, wilde Geschichte, eingebettet in die Wahnvorstellungen und Irrtümer ihrer Zeit, erzählt uns erst Jakob Hein, lehrreich und amüsant.

Prächtige Gewänder im Gefangenenlager

Edgar Stern, der Frankreich liebt, ist vom Ausbruch des Krieges verstört. Gleichzeitig langweilt er sich bei seinem 1. Westfälischen Pionier-Bataillon und entwickelt, wütend und trotzig, mit seinen Kameraden einen Vernichtungsplan gegen die Engländer: Seine kühne Idee, den Suez-Kanal zu sprengen um die englischen Versorgungswege lahmzulegen, stößt im Kriegsministerium auf Begeisterung. Die türkische Sperrung der Dardanellen kommt ihm zuvor, aber im Rahmen einer „modernen Kriegsführung“, zu der neben der Initiierung des Dschihad auch der Einsatz eines russischen Sozialisten namens Uljanow in Zürich gehört, gibt es Herausforderungen ganz eigener Art für ihn.

Der historische Edgar Stern war Adjutant von Fritz Klein, dem deutschen „Lawrence of Arabia“, mit dessen Expedition sich Sterns Gruppe in Konstantinopel vereinigen sollte, um später in Afghanistan britische Ölquellen zu sprengen. Jakob Hein hat seinem teils fiktiven Helden Stern eine von Kleins Aktionen, ein erfolgreiches Treffen mit den höchsten schiitischen Würdenträgern in Kerbela zugeschrieben. Aber allein Sterns Verdienst war es, eine Gruppe muslimischer Kriegsgefangener aus dem sogenannten „Halbmondlager“ in Wünsdorf heil bis nach Konstantinopel zu bringen, wo sie als Pfand der deutschen Bündnistreue vor den Augen des Sultans freigelassen wurden: als Höhepunkt der Feier zur Verkündung des Dschihad.

Dieses luxuriöse Gefangenenlager bei Potsdam hatte Jakob Hein neugierig gemacht und seine Recherche angestoßen. Es besaß nicht nur eine eigene Kaffeesiederei, sondern hier wurde auch die erste Moschee auf deutschem Boden errichtet und eine Lagerzeitung namens „al-Gihad“ herausgegeben. Diese sollte arabische, afrikanische und Berber-Gefangene, die weder eine gemeinsame Sprache noch einen einheitlichen Glauben besaßen, für einen gemeinsamen Heiligen Krieg begeistern. Es gab ein ideologisches Punktesystem und prächtige Gewänder, was die Wünsdorfer erbitterte, deren Söhne in den Schützengräben in Flandern lagen. Das ganze Lager bot eine makaber-komische Szenerie.

Fotos und historische Ergänzungen

Hein hat daraus eines der vielen Bravourstücke seines Romans gemacht. Die traurige Ergebenheit und die Verwirrung von Sterns marokkanischen Freiwilligen für dieses Himmelfahrtskommando sind grenzenlos. Wie realistisch sie im Roman geschildert sind, lassen die Fotos ahnen, die Major Klein während seiner Aktionen 1914/1915 von seinen muslimischen Helfern ließ. Sterns Idee, seine Männer als Zirkustruppe zu tarnen, war genial und wahrscheinlich die einzige Möglichkeit, mit dem Zug durch das feindliche Rumänien zu gelangen. Sogar eine mobile Telegraphenstation, getarnt als Zirkuszelt, schmuggelten sie an den österreichischen und rumänischen Zollinspektoren vorbei. Die würdigen Amtsträger in ihren prächtigen Uniformen waren von ihrer Wichtigkeit so berauscht, dass Stern sie nur beim Wort zu nehmen brauchte, um ihnen zu schmeicheln und sie gleichzeitig zutiefst bloßzustellen. Der brave Soldat Schwejk hätte das nicht besser vermocht.

Beklemmend nah kommt uns diese Geschichte in den das Buch beschließenden „Paralipomena“, historischen Ergänzungen, die Jakob Hein nicht besser hätte erfinden können. So dient heute das Kasernengelände am Treptower Park in Berlin, von dem aus Edgar Stern 1915 mit seiner konspirativen Truppe aufbrach, dem Bundeskriminalamt und dem Verfassungsschutz als gemeinsames Terrorismusabwehrzentrum.

Jakob Hein: Die Orient-Mission des Leutnant Stern. Roman. Galiani Verlag, Berlin 2018. 244 Seiten, 18 €.

Nicole Henneberg

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