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Die Altvorderen mit Nachsicht umgarnen. Ein Wahlplakat der konservativen ÖVP aus dem Jahr 1949 wirbt um ehemalige Nationalsozialisten.

© Österreichische Nationalbibliothek

70 Jahre Kriegsende: Und die Zeugen bleiben stumm

70 Jahre nach Kriegsende: Das Deutsche Historische Museum sammelt Material aus zwölf europäischen Ländern und präsentiert es in der Austellung "1945- Niederlage. Befreiung. Neuanfang".

Von Gregor Dotzauer

Jede Zeit stellt ihre eigenen Fragen an die Vergangenheit. Wenn die Kriege vorüber sind, beginnen mit der Erinnerung auch die geschichtspolitischen Schlachten. Vom Gedenken, das sich um die bedingungslose Kapitulation der deutschen Wehrmacht am 8. Mai 1945 rankt, lässt sich guten Gewissens behaupten, dass sie inzwischen geschlagen sind. Spätestens mit Richard von Weizsäckers Rede 40 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde die Trias von Niederlage, Befreiung und Neuanfang, die nun den Untertitel einer Ausstellung des Deutschen Historischen Museums (DHM) zum 70. Jahrestag von „1945“ bildet, zur nüchternen Tatsachenfeststellung, die sowohl das chauvinistische Sentiment einer um den Endsieg betrogenen Generation hinter sich ließ wie die Illusion einer unbefangenen Stunde null.

In der Zwischenzeit, man traut es sich kaum aufzuzählen, ist ein kommunistisches Weltreich zerbrochen und mit ihm die Nachkriegsordnung. Neue Nationalismen und Fundamentalismen zeigen ihre Fratze. Die USA sind dabei, ihre Rolle als Weltpolizist aufzugeben, das postkoloniale Afrika zerfällt in weiten Teilen. In Gestalt von China und Indien sind zwei neue Weltreiche entstanden, die Europas ökonomische Geschicke beeinflussen. Und: Der Erste Weltkrieg macht 100 Jahre nach seinem Beginn dem Zweiten Weltkrieg zurzeit den Rang als Zentralereignis des 20. Jahrhunderts streitig.

An Entwicklungen, die das Schicksalsjahr 1945 und die fünf in den Blick genommenen Jahre danach in einen neuen Zusammenhang rücken, herrscht kein Mangel. Der Anspruch der Kuratorinnen Maja Peers und Babette Quinkert auf Multiperspektivität hat also etwas für sich. Jede Überschreitung der Nationalgeschichte, die sich das DHM immer wieder neu erkämpfen muss, ist zu begrüßen. Doch die Art und Weise, mit der sie hier „Zwölf Länder Europas nach dem Zweiten Weltkrieg“ zusammenbringen, ergibt eine reine Addition von Nationalgeschichten, und auch sie ist nichts Halbes und nichts Ganzes.

So legitim es ist, den Blick einmal nach Luxemburg, Norwegen und in die Niederlande zu richten: Was kann eine Ausstellung taugen, die dabei auf Italien verzichtet, das in den ersten Jahren des Kriegs mit Deutschland bekanntlich noch gemeinsame Sache machte, bis es 1943 auf die Seite der Alliierten wechselte? Wie kann man gerade jetzt Griechenland ignorieren, das nach der Besatzung durch Deutsche, Bulgaren und Italiener in einen Bürgerkrieg taumelte? Und ist, gerade durch die habsburgische Vorgeschichte im Ersten Weltkrieg, das Kapitel Jugoslawien entbehrlich?

Damit fängt es an, und es wird nicht dadurch besser, dass Alexander Koch, der Direktor des DHM, auf den Segen des Fachbeirats verweist, aber kein einziges Argument zu nennen weiß. Noch ärgerlicher ist, dass diese Ausstellung auch über den selbst gewählten Ausschnitt nichts Erkennbares in Erfahrung bringen will.

Ein neonerleuchteter Zentralraum, an dessen Wänden – Sinnlichkeit ist Trumpf – unter anderem die nackten Zahlen von 40 Millionen Heimatlosen und sieben Millionen Zwangsarbeitern prangen, führt durch türartige Aussparungen hinaus in die Länderabteilungen, in denen Luxemburg, schön paritätisch, so viel Platz eingeräumt wird wie der Sowjetunion. Hier hängt unter dem Stichwort „Erzwungene Migration“ ein Koffer , dort liegt in der Vitrine eine Erstausgabe von Anne Franks Tagebuch, hier findet sich die verbogene Taschenuhr des belgischen Adjutanten Van Lierde, der im August 1945 bei der Entschärfung einer Mine ums Leben kam, dort greift ein Foto die Vertreibung der Sudetendeutschen auf.

Eine schwerpunktlose Ansammlung von Stichworten, Dokumenten und Objekten

Titelblatt einer Sonderausgabe des Magazins „J.“. Französinnen feiern das Kriegsende in den Farben der alliierten Sieger, Paris, 8. Mai 1945
Titelblatt einer Sonderausgabe des Magazins „J.“. Französinnen feiern das Kriegsende in den Farben der alliierten Sieger, Paris, 8. Mai 1945

© DHM

Eine schwerpunktlose Ansammlung von Stichworten, Dokumenten und Objekten, die einem geradezu die Sehnsucht nach der dröhnenden Zwangsdramatisierung eines Guido Knopp eingibt. Das Schlimmste aber ist, dass der biografische Erzählansatz ins Leere läuft. Die jeweils drei Individuen, die unter Berufung auf die aussterbenden Zeitzeugen stellvertretend für jedes der zwölf Länder stehen sollen, bleiben, von wenigen Ausnahmen abgesehen, originaltonlos, in der Zusammenstellung willkürlich, und eine ganze Reihe von ihnen ist seit Jahren tot.

Die 36 murkeligen Holzstelen im Zentralraum, auf denen ihr Konterfei mit Namen prangt, richten sich in den Compartments zu Stellwänden auf. Die beigefügten Biografien, manchmal unter Beigabe eines persönlichen Objekts, bleiben aber so dürr, dass man gar nicht verstehen kann, warum man sich mit dem tschechischen Langstreckenläufer Emil Zátopek, einem wahren Held des Volkes, oder mit dem belgischen Politiker Paul Henri Spaak beschäftigen soll.

Wo man oft nur ein wenig mehr wissen müsste, um es gewinnbringend einzuordnen, wird es nicht mitgeteilt, und wo sich thematische Schneisen zu universalgeschichtlichen Perspektiven entwickeln ließen, wird jede Gelegenheit nach Kräften ignoriert. Drei Beispiele: Eine Aufnahme aus dem dänischen Odense zeigt Demonstranten, die im Mai 1945 die Wiedereinführung der Todesstrafe für Kollaborateure fordern. Die Bildtafel erklärt, dass Regierung und Parlament sich dem Druck beugten und mit einem „Landesverrätergesetz“ die juristische Grundlage dafür schufen. Nicht nur, dass man an die moralische Frage anknüpfen könnte, unter welchen historischen Umständen grundsätzliche Bedenken gegen die Todesstrafe offenbar keine Rolle mehr spielen: Man erfährt vor allem nicht, dass Dänemark sie erst im April 1933 abgeschafft hatte, und man muss schon dem Essay im Katalog entnehmen, dass von 76 Urteilen 46 in Form von Erschießungen vollstreckt wurden. Er verschweigt allerdings wiederum, dass im Juli 1950 damit Schluss war. Was soll man ohne vernünftigen Kontext damit anfangen?

Ein berühmtes Plakat, das unter dem Slogan „Hier Strasbourg, demain Saïgon“ für die Forces expéditionnaires françaises en Extrême-Orient wirbt und von der zweifelhaften ideellen Kontinuität zwischen der Befreiung des Elsass und dem Französischen Indochinakrieg erzählt, steht nicht minder erratisch da. Weder verrät die Bildlegende, dass die genannten Truppen im Zweiten Weltkrieg zwar für den Kampf gegen Japan konzipiert wurden, aber erst 1946 zum Einsatz kamen. Noch leistet der Katalogtext mehr, als die französische Kolonialpolitik in drei verhungerten Absätzen abzuhandeln – den Indochinakrieg selbst sogar nur in einem einzigen Satz.

Eine Fotografie der 1948 im britischen Seehafen Tilbury einlaufenden Empire Windrush ist mit dem Hinweis verknüpft, dass mit ihr 417 Einwanderer aus den West Indies eintrafen – der Beginn einer beispiellosen Immigrationswelle. Kein Wort davon, dass das Kreuzfahrtschiff zuvor MV Monte Rosa hieß und deutsche Kriegsbeute war. Nichts vom damaligen Bedarf nach Arbeitskräften und der sprichwörtlich gewordenen Generation Windrush. Immerhin erwähnt der Katalog den Weg vom British Empire zum Commonwealth.

Auch wie die Niederlande im heutigen Indonesien („ons Indie“) ihre Kolonien verloren, wird gestreift, wobei sich die Ausstellung in Bezug auf Italien und dessen afrikanische Kolonialpolitik ohne Not sehenden Auges blind gemacht hat. So materialreich wird Wissbegierde selten enttäuscht.

Deutsches Historisches Museum, bis 25. Oktober. Katalog in deutscher oder englischer Sprache 19,95 €. Ausführliches Begleitprogramm mit Filmen, Lesungen und Diskussionen. Details unter www.dhm.de

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