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Wird zu wenig geimpft, kann sich ein zurückmutiertes Polio-Impfvirus wieder ausbreiten.

© Adobe Stock/nobeastsofierce / nobeastsofierce

Kinderlähmung : Wie sich Polioviren unbemerkt verbreiten können

Die Kinderlähmung schien fast ausgerottet, kann sich inzwischen aber wieder verbreiten – wegen mangelnder Impfbereitschaft.

Im letzten Sommer kehrte in den US-Bundesstaat New York ein altes Schreckgespenst zurück. In einem ländlichen Bezirk litt ein junger Mann plötzlich unter einer seltsamen Schwäche der Muskeln – ein Fall von Kinderlähmung. Verursacht wird das Leiden von Polioviren. Die sichtbaren Erkrankungen sind bei dieser Krankheit nur eine kleine Spitze eines riesigen Eisbergs von Fällen ohne oder mit schwachen Krankheitsanzeichen. Um das Virus in den Griff zu bekommen, suchte man im Abwasser der Region nach Viren; die Methode des Abwassermonitoring ist mit SARS-CoV-2 bekannt geworden, wird bei Polio aber schon seit Jahrzehnten angewandt. In verschiedenen Bezirken des Bundesstaates wurde das Virus gefunden, dort wird nun die Impfkampagne intensiviert. Einen Fall gab es in Israel, und auch im Londoner Abwasser findet man das Virus.

Wie konnte es dazu kommen, und wie groß ist die Gefahr, dass diese fast ausgerottete Krankheit uns auch in Deutschland wieder heimsuchen wird?

Früher eine ständige Bedrohung

Um das zu verstehen, müssen wir siebzig Jahre zurückgehen. In den 1950ern war die Kinderlähmung in Europa eine ständige Bedrohung. Zur Eindämmung wurden Schulschließungen angeordnet oder Badeseen gesperrt. Die Lähmungen, von denen vor allem Kinder betroffen sind, können sich zwar nach jahrelanger Therapie bessern, heilen aber selten ganz aus. Jahre bis Jahrzehnte nach einer mild verlaufenden Erstinfektion kann es zudem zum Post-Polio-Syndrom kommen, mit schwerer Erschöpfung und Muskelschwächungen. Damals wurden in Deutschland (Ost und West) einige Hundert Todesfälle pro Jahr gemeldet, und einige Tausend Fälle von Lähmungen. Es begann aber auch die Impfkampagne, und schon nach wenigen Jahren gingen die Fallzahlen gegen null.

Bei dem rettenden Impfstoff handelte es sich um ein abgeschwächtes Lebendvirus, das im Labor weitgehend nach Zufallsprinzip gezüchtet wurde. Dabei entstandene Veränderungen im Erbgut führten zum Verlust der krankmachenden Eigenschaften. Das abgeschwächte Virus konnte Menschen infizieren und eine starke und langanhaltende Immunität erzeugen. Krank macht es nur in äußerst seltenen Fällen.

Immerhin kann es dann Lähmungen verursachen, und so wechselte man in den 1990ern in Deutschland zu einem „Totimpfstoff“, also einem abgetöteten Virus. Dieser ist sicherer als der Lebendimpfstoff, verhindert aber die Weitergabe des Virus nicht so gut. Wo das richtige, „wilde“ Poliovirus noch eine Bedrohung darstellt (vor allem Afghanistan/Pakistan/Südostafrika und benachbarte Regionen), wird daher immer noch der Lebendimpfstoff verwendet.

Nachteil des Totimpfstoffs

So sehr dieser geholfen hat, die Kinderlähmung zurückzudrängen, einen Nachteil hat er: Das Virus kann so zurückmutieren, dass es sich wieder verbreiten kann und manchmal bei Ungeimpften wieder Lähmungen verursachen kann. Der Grund dafür ist, dass die „Sicherheitsmarge“, also die Anzahl Veränderungen im Erbgut, die zur Abschwächung führen, zu klein ist – und nach einigen Monaten Zirkulation überwunden werden kann.

Bei der Entwicklung des Impfstoffes vor 70 Jahren gab es das ganze heutige Arsenal molekularbiologischer Methoden wie Erbgutbestimmungen von Viren noch nicht. Es war schlicht nicht klar, woher die Abschwächung kommt. Ein modernes Gegenstück ist der abgeschwächte Lebendimpfstoff gegen das Coronavirus SARS-CoV-2, der unter Federführung der Freien Universität in Berlin entwickelt wird: Dessen Erbgut wurde gezielt so verändert, dass die Hürden zu einer „Verwilderung“ extrem hoch sind.

Schluckimpfung gegen Polio.

© dpa/pa/Farooq Khan

Ein zurückmutiertes Polio-Impfvirus kann sich allerdings nur ausbreiten und gefährlich werden, wenn zu wenig geimpft wird; auch der betroffene junge Mann war ungeimpft. In seinem Bezirk des US-Bundesstaats New York ist die Impfquote mit 60 Prozent außerordentlich niedrig, in einigen Gebieten sogar unter 40 Prozent. Innerhalb der USA ist das eine Ausnahme, die es so extrem in Deutschland nicht gibt.

Ganz sicher ist die Lage allerdings auch hierzulande nicht: Im Landkreis Ravensburg in Baden-Württemberg waren beispielsweise 2018 nur 73 Prozent vollständig geimpft (vier Impfdosen), bei sinkenden Impfquoten.

Was lernen wir daraus? Die Kinderlähmung kommt 70 Jahre nach Beginn der weltweiten Impfkampagnen kaum noch vor. Trotzdem ist das wilde Poliovirus noch in der Welt, und auch das vom Impfstoff-abgeleitete Virus bleibt ein Thema. Zwar werden sicherere Lebendimpfstoffe entwickelt, doch es wird noch dauern, bis sie verfügbar sind.

Es bleibt eine Herausforderung, die Menschen zum Impfen zu motivieren – gegen ein Virus, das weitgehend unsichtbar existiert. Beobachtungsmöglichkeiten wie etwa über das Abwasser müssen verbessert und mit einem Horizont von Jahren geplant werden – in Deutschland läuft dazu ein Pilotprojekt im Robert-Koch-Institut. Seuchenbekämpfung braucht also einen langen Atem, damit nicht längst verbannte Schreckgespenster zurückkehren.

Mit Dank an Sabine Diedrich und Sindy Böttcher.

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