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Beim Prozess in Moskau streckte Nadija Sawtschenko den Richtern den Mittelfinger entgegen, stimmte die ukrainische Hymne an.

© Maxim Zmeyev/Reuters

Kampfpilotin Nadija Sawtschenko: Wie eine Ukrainerin von der Heldin zur „Terroristin“ wurde

Der Werdegang der Kampfpilotin Nadija Sawtschenko ist ein Abbild des politischen Systems der Ukraine. Am Sonntag wird gewählt.

Zwei Straßen neben dem ukrainischen Parlament sind vor einem Lokal ein paar Glastische an eine Mauer gerückt, die hohen Baumkronen der Allee spenden Schatten, und immer wieder eilen Passanten, telefonierend und mit Aktenkoffer, an Nadija Sawtschenko vorbei, deren Blicke kurz auf ihr bleiben.

Nadija Sawtschenko, einstige ukrainische Kampfpilotin, die sich im Sommer 2014 einem Freiwilligenbataillon in der Ostukraine angeschlossen hatte und von pro-russischen Separatisten gefangen genommen und nach Russland entführt wurde. In einem Schauprozess wurde ihr vorgeworfen, einen Angriff auf zwei russische Fernsehjournalisten gesteuert zu haben. Die Volksheldin, die in der Ukraine als „unsere Nadija“ verehrt wurde, als Nationalheilige und Märtyrerin – zugleich in Russland aber als „Faschistin“ beschimpft.

Man schimpft sie „Kreml-Agentin“ und „Terroristin“

Sie war zwischendurch Russlands prominenteste Kriegsgefangene, für die russische Propaganda war sie die „Mordmaschine im Rock“, wie sie der staatliche Fernsehsender Rossija 24 im Juli 2014 bezeichnete. Später dann wurde sie auch in ukrainischen Medien immer wieder mit drastischen Attributen beschrieben, als „Kreml-Agentin“ bezeichnet, zuletzt als „Terroristin“ beschuldigt. Aber auf keine Zuschreibung reagiert Sawtschenko heute so entrüstet und verständnislos wie auf die Frage, ob sie ein Opfer sei. „Ich bin eine Kämpferin“, sagt sie. „Kein Opfer. Wenn es hier ein Opfer gibt, dann ist es die Ukraine.“

Seit fast fünf Jahren ist die heute 38-Jährige offiziell Abgeordnete des ukrainischen Parlaments, der Werchowna Rada. Mehr als die Hälfte der Zeit davon verbrachte sie im Gefängnis. Zuerst in Russland, dann in der Ukraine.

Sawtschenko, die Terroristin? Was auch immer an den Vorwürfen dran ist – Sawtschenko ist ein besonders krasses Beispiel dafür, wie schnell aus Helden der ukrainischen Politik Schurken werden können. Die Sehnsucht nach einer Erlöserfigur, die zugleich zur Projektionsfläche für einen wirklichen demokratischen Umbau wird: Es ist dieser Widerspruch, an dem sich die ukrainische Politik immer wieder zerreibt. Sawtschenko wurde noch vor wenigen Jahren als mögliche Präsidentschaftskandidatin gehandelt, heute wäre allein ihr Wiedereinzug in die Werchowna Rada eine Sensation.

Bis vor wenigen Wochen im Gefängnis

Am Sonntag finden in der Ukraine vorgezogene Parlamentswahlen statt. Die Partei des ehemaligen Fernsehkomikers Wolodymyr Selenskyj, der die Präsidentschaftsstichwahl gegen Amtsinhaber Petro Poroschenko im April mit einem Rekordergebnis von 73 Prozent gewonnen hatte, steht vor einem fulminanten Sieg.

Sie heißt wie die Fernsehserie, in der Selenskyj einen fiktiven Präsidenten spielt – Sluga Naroda, „Diener des Volkes“. Laut Umfragen liegt sie bei 47 Prozent, gefolgt von der pro-russischen Partei „Oppositions-Plattform – Für das Leben“, der Poroschenko-Partei „Europäische Solidarität“ und der neu gegründeten Partei eines Rocksängers, „Die Stimme“.

Es ist ein heißer Juni-Tag, Sawtschenko sitzt an einem der Glastische in der Kiewer Innenstadt und spricht von ihren politischen Zielen, als sei sie nicht bis vor einigen Wochen im Gefängnis gewesen, wegen vermeintlicher Umsturzpläne und eines geplanten Anschlags auf das Parlament. Am Nebentisch sitzt Sawtschenkos jüngere Schwester Wira und blättert in einem Hochglanzmagazin.

„Weder rechts noch links“

Den Tarnanzug von einst hat die Kampfpilotin gegen eine schwarze Bluse und schwarze Hosen getauscht. Sandalen und Ledertasche, nur die braune Kurzhaarfrisur ist geblieben. Sie ist ungeschminkt, ihre Gesten sind fahrig und ungezwungen, beim Reden zieht sie immer wieder ihre Augenbrauen zusammen, selten hellt sich ihr strenger Blick zu einem Lachen auf. Atemlos, wie ein Maschinengewehr, rattert sie ihr Parteiprogramm herunter und zündet sich eine Zigarette nach der anderen an. Sie spricht über Referenden und Selbstverwaltung, über einen garantierten Mindestlohn und den „politischen Wandel“, den die Ukraine brauche. Es dauert fast 20 Minuten, bis sie die wichtigsten Themen aufgezählt hat, mit denen sie das Land verändern will. „Wir sind weder rechts noch links“, sagt sie. „Sondern vor allem gegen die Korruption.“

Eigentlich wollte Sawtschenko mit ihrer Partei „Öffentlich-politische Plattform von Nadija Sawtschenko“ bei den Wahlen antreten. Doch nachdem es der Partei nicht gelungen war, die nötige Geldsumme von umgerechnet 14.000 Euro dafür aufzubringen, bewirbt sich Sawtschenko nun für ein Direktmandat, in einem Wahlkreis an der Front in der Ostukraine.

Sie will kämpfen. Wie jedes Mal

Ihre Schwester bewirbt sich auch für eines, in der vom Krieg gezeichneten Frontstadt Awdijiwka. Dort, an der Front, wollen die Schwestern auch die letzten Tage vor der Wahl verbringen. Ihnen werden kaum Chancen eingeräumt, den letzten Umfragen zufolge wäre ihre Partei auf 0,6 Prozent der Stimmen gekommen. Doch Sawtschenko will kämpfen. Wie jedes Mal.

Jetzt kämpft Nadija Sawtschenko um ein Direktmandat.
Jetzt kämpft Nadija Sawtschenko um ein Direktmandat.

© Simone Brunner

Als man sie 2014 gefangen nahm und nach Russland brachte, wurde Sawtschenko über die Grenzen der Ukraine hinaus bekannt. Die ihr im Prozess gemachten Vorwürfe – der Tod der beiden Journalisten – gelten als fingiert, da sie sich laut Mobiltelefondaten zu diesem Zeitpunkt bereits in Gefangenschaft befunden haben soll. In ihrer Zelle trat sie in den Hungerstreik, beim Prozess streckte sie den Richtern durch die Gitterstäbe den Mittelfinger entgegen, stimmte die ukrainische Hymne an. Vor laufenden Kameras wurde sie am 22. März 2016 verurteilt, zu 22 Jahren Haft.

Unter dem Hashtag #SaveOurGirl wurde in den sozialen Netzwerken ihre Freilassung gefordert; ein TV-Sender richtete eine Webseite zu ihrem Fall ein; in Kiew kam es bei Demonstrationen zu Vandalenakten gegen die russische Botschaft. Mehr als zwei Millionen Briefe soll sie im Gefängnis bekommen haben, erzählt sie heute. Noch während sie in Haft saß, wurde Sawtschenko in das ukrainische Parlament gewählt. Die Partei „Vaterland“, geführt von der Ex-Ministerpräsidentin Julia Timoschenko, hatte bei der Kriegsgefangenen angefragt, ob sie antreten würde. Sie sagte zu – zum Spaß, wie sie später erzählte: „Ich dachte nicht, dass ich da lebend wieder rauskomme. Wenn dein Leben am seidenen Faden hängt, kannst du es dir erlauben, so zu scherzen.“

Parlamentarier beschimpfte sie als niederträchtig

Als sie 2016 im Austausch gegen zwei russische Kriegsgefangene freikam und in die Ukraine zurückkehrte, wurde sie von Präsident Poroschenko persönlich als „Heldin der Ukraine“, der höchsten ukrainischen Auszeichnung, geehrt, zog tatsächlich in die Rada ein – um sich innerhalb weniger Wochen mit Timoschenko und ihrer Partei zu überwerfen.

Sie beschimpfte Parlamentarier als faul und niederträchtig, die Stimmung wendete sich gegen sie. Abgeordnete beargwöhnten ihre für eine Soldatin angeblich bemerkenswerten Rhetorikfähigkeiten, wo sie die denn beigebracht bekommen haben mag? Und trotz Hungerstreik: Sie sei ja in erstaunlich gutem Zustand aus Russland heimgekehrt.

Vor einem Jahr dann: Die Behörden warfen Sawtschenko vor, mit moskautreuen Separatisten einen Terroranschlag mit Granaten und Maschinengewehren auf das Parlament in Kiew geplant zu haben, ihr wurde die Abgeordnetenimmunität entzogen. Der Generalstaatsanwalt sprach von „unwiderlegbaren Beweisen“, ihr droht lebenslange Haft. Vorwürfe, die sie zurückweist – wenngleich Videoaufnahmen zeigen, wie Sawtschenko mit einigen Männern darüber spricht, man müsse einen „politischen Coup“ durchführen und Parlamentarier „physisch vernichten“. Zuvor hatte sie das Parlament schon als „Teufelswerk“ bezeichnet, eine „Heimat von Freaks“, in der sich „lauter Puppenspieler und Marionetten“ tummeln.

Die Justiz gilt als korrupt

Worte, von denen sie sich auch heute, wieder in Freiheit, nicht so wirklich distanzieren will. „So reden die Leute bei uns nun mal“, sagt sie. Und das verschwörerische Video? Ein Verwirrspiel, nicht ganz ernst gemeint und mit den Sicherheitskräften abgesprochen. „Eine Provokation, um mich aus der politischen Arena zu drängen und vor den Präsidentschaftswahlen loszuwerden“, sagt sie. „Aber eines ist klar: Eine Terroristin bin ich nie gewesen.“

Die ukrainischen Behörden sahen das anders: Im März 2018 wurde sie in U-Haft genommen. Im April dieses Jahres kam sie wieder frei, als die Richterin entschieden hatte, die Haft nicht zu verlängern. Dass ihre Freilassung in die Zeit fällt, als Präsident Poroschenko, den sie zuletzt immer besonders scharf attackiert hatte, abgewählt wurde, ist ihr Beweis genug, dass der Fall politisch motiviert sei.

Was an den Vorwürfen gegen Sawtschenko wirklich dran ist, lässt sich schwer einschätzen. Bei den Videoaufnahmen, die veröffentlicht wurden und deren Echtheit sie selbst nicht bestreitet, machte sie jedenfalls keine gute Figur. Doch andererseits hat die ukrainische Justiz unter Poroschenko, allen voran sein Generalstaatsanwalt, der die Vorwürfe erhob, vor allem bei politischen Gegnern nicht gerade mit Unparteilichkeit geglänzt. Sie gilt als unreformiert und korrupt.

„Lady Dynamite“ nannte man sie im Scherz

Sawtschenko war die erste Frau, die an der Universität der Luftstreitkräfte in Charkiw studierte und zur Kampfpilotin ausgebildet wurde, sie lebt heute noch mit ihrer Schwester und ihrer Mutter im Plattenbau in einem schmucklosen Kiewer Schlafbezirk ohne Metroanschluss. In schlaflosen Nächten beantwortet sie Anfragen ukrainischer Bürger. Als sie nach ihrer Freilassung als Abgeordnete in der Rada saß und ihr Terminkalender immer voller wurde, hielt sie Sprechstunden auch um vier Uhr morgens ab. Wenn Anti-Korruptions-Aktivisten vor einer wichtigen Abstimmung den Druck auf Abgeordnete erhöhen wollten, riefen sie bei den Sawtschenko-Schwestern an, die dann wirklich wenig später in ihrem weißen Skoda Fabia um die Ecke gerast kamen, um die Aktivisten zu unterstützen. „Lady Dynamite“, so nannte man sie damals schon halb im Scherz.

Der kometenhafte Aufstieg, gefolgt vom tiefen Fall: Sawtschenko teilt dieses Schicksal mit einer Reihe ukrainischer Politiker. Wiktor Juschtschenko, der Sieger der orangefarbenen Revolution 2004? Hatte seine Gunst innerhalb von zwei Jahren verspielt. Arsenij Jazenjuk, der nach den Maidan-Protesten mit seiner Partei „Volksfront“ einen Überraschungserfolg landete und Premier wurde? Musste nach 18 Monaten das Feld räumen. Petro Poroschenko, der unmittelbar nach den Maidan-Protesten vor fünf Jahren bereits im ersten Wahlgang zum Präsidenten gewählt wurde? Verlor in diesem Jahr gegen den Fernsehkomiker.

Der Geheimdienst verhinderte die Reise

Bei Sawtschenko liegt die verlorene Gunst vieler Ukrainer nicht zuletzt an ihren Äußerungen, der Dritte Weltkrieg stehe kurz bevor, die Ukraine brauche eine Militärdiktatur wie unter dem „altruistischen“ Diktator Augusto Pinochet. Oder an ihren eigenwilligen Aktionen, als sie nach ihrer Freilassung aus Russland in die besetzten Gebiete im Donbass reiste, um dort nach eigenen Angaben den schleppenden Gefangenenaustausch zwischen den Ukrainern und den pro-russischen Separatisten voranzutreiben – sie habe mit denen dort auch geredet, wirft ihr der Geheimdienst SBU vor. Die Regierungslinie aber ist: Mit Separatisten-Vertretern verhandeln wir nicht.

Zuletzt hatte Sawtschenko wieder angekündigt, für ihre Wahlkampagne in die besetzten Gebiete im Donbass zu fahren, doch wurde sie vom Geheimdienst daran gehindert.

Doch manchmal blitzt sie noch auf, die Aura der Volksheldin, wenn Sawtschenko heute, mit grimmigem Blick und den Händen in den Hosentaschen, durch die Kiewer Straßen zum nächsten Termin zieht. Gerade ist sie von einer Sitzung aus der Werchowna Rada gekommen. Als sie im Gehen noch hektisch in ihr Handy tippt, fast so, um die vielen ungläubigen und neugierigen Blicke zu ignorieren, die ihr die Passanten zuwerfen, tritt ein Mann schüchtern an sie heran, um ihr dann doch die Hand zu schütteln, weil sie seinem Bruder, einem Schachtarbeiter, geholfen habe, endlich seinen ausstehenden Lohn von einem ukrainischen Staatsbetrieb zu erhalten.

Später, als sie vor dem Lokal sitzt, läuft eine junge Frau vorbei und dankt ihr für ihren Einsatz für die Kriegsgefangenen. Hin und wieder halten sie Passanten für ein Selfie an. „Nadija, Sie sind eine sehr mutige Frau“, sagt eine ältere Frau im Vorbeigehen. Doch die misstrauischen Blicke der Passanten überwiegen.

Die Paläste und das Elend

Doch warum tut sie sich das alles überhaupt noch an? Sawtschenko wendet den Blick ab, bläst den Zigarettenrauch in die schwüle Kiewer Nachmittagsluft, und sagt: „Wie könnte ich nur ein normales, ruhiges Leben in diesem Land leben? Wo ich doch jeden Tag sehe, wie die Dinge laufen?“ Und schon ist sie wieder mitten- drin in ihrem nächsten Redeschwall. Die Korruption. Das Chaos. Die Armut. Die Oligarchen. Die Limousinen, die klapprigen Busse, die schlechten Straßen. Die Paläste der Reichen, das Elend der Obdachlosen. Die herrenlosen Hunde. Egal, wie die Wahlen ausgehen – ans Aufgeben denkt Sawtschenko jedenfalls nicht. „Ich habe sowohl in Russland als auch in der Ukraine gelernt, Widerstand zu leisten“, sagt sie. „Was einen nicht umbringt, das macht einen nur noch stärker.“

Simone Brunner

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