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Liliana Segre im Februar 2022 während der Gedenkstunde zur Deportation der Juden ihrer Heimatstadt Mailand im Januar 1944 - sie war eine der Verschleppten.

© imago images/Elena Di Vincenzo

Italiens neues Parlament: Die Shoah-Überlebende und die Faschisten

Liliana Segre überstand KZ und Todesmärsche. Jetzt eröffnete sie das erste Parlament Italiens, in dem die Erben des Faschismus den Ton angeben.

Für die Satirikerin Michela Murgia ist sie eine der drei Frauen, die in der nahezu frauenfreien italienischen Öffentlichkeit wirkliche Prominenz haben, das heißt: gehört werden. Demnach wäre Liliana Segre heute die einzige. Denn die beiden anderen, Medizin-Nobelpreisträgerin Rita Levi-Montalcini und Astrophysikerin Margherita Hack, sind seit etlichen Jahren nicht mehr am Leben.

Die heute 92-jährige Segre, die als Kind Auschwitz überlebte, ist nicht nur sehr lebendig, sie hört auch im hohen Alter nicht auf, ihre Botschaft ins Land zu tragen, vor allem in die Schulen Italiens: „Nicht vergessen.“

Als sie heute als Alterspräsidentin des italienischen Senats sprach, zur konstituierenden Sitzung der beiden neugewählten Parlamentskammern, erwähnte sie den „Schwindel“, den sie in diesem Augenblick spüre: Wenige Tage nur vor dem 100. Jahrestag des Beginns der faschistischen Diktatur Mussolinis eröffne sie die Arbeit jenes „Tempels der Demokratie“.

In diesem Oktober denke sie aber auch an sich als Kind zurück, das 1938 „unglücklich und verwirrt, gezwungen war, seine Bank in der Grundschule leer zu lassen“. Die faschistischen Rassegesetze jenes Jahres hatten ihr - das italienische Schuljahr begann damals im Oktober - die Rückkehr unmöglich gemacht.

Die Regierung, die Ende des Monats das Vertrauen von Senat und Abgeordnetenhaus braucht, wird dann zum ersten Mal von einer Partei angeführt, deren Wurzeln im Faschismus liegen. Und die darauf sogar stolz ist – so jedenfalls bekannte sich die Parteichefin der „Fratelli d’Italia“ (FdI) und designierte Ministerpräsidentin Giorgia Meloni im Wahlkampf.

Mussolinis Rassegesetze machten sie erst zur Jüdin

Segre selbst hatte sie öffentlich aufgefordert, wenigstens auf das Parteisymbol zu verzichten, die faschistische Flamme im Grün-Weiß-Rot der italienischen Flagge. Die “fiamma tricolore” war schon das Emblem des ersten Auffangbeckens alter Kameraden nach dem Krieg, des MSI (Movimento Sociale Italiano).

Gründerfiguren waren die Gläubigsten des Faschismus, die auch noch nach dem Sturz Mussolinis 1943 in dessen Marionettenregime in Salò aktiv waren, der „Repubblica Sociale Italiana“ von Hitlers Gnaden. Der langjährige Übervater des 1946 gegründeten MSI war Giorgio Almirante, einige Jahre lang führend in der antisemitischen Zeitschrift „La difesa della razza“ (Verteidigung der Rasse) und später Kabinettschef im Kulturministerium von Salò.

Segres Appell an Meloni blieb erwartbar ungehört. Eine weitere traurige Ironie könnte man darin sehen, dass Segre unmittelbar nach dieser konstitutierenden Sitzung des Senats den Sessel der Präsidentin für Ignazio La Russa räumen musste.

Ignazio Benito Maria La Russa war von 2008 bis 2011 Verteidigungsminister unter Berlusconi und vor zehn Jahren neben Meloni der zweite Gründer der Fratelli. Den heute 75-Jährigen kann man zu den ziemlich alten Kameraden zählen: Seine politische Laufbahn begann er im MSI.  

Liliana Segre steht auf der andern Seite der Geschichte. Sie wurde 1930 in Mailand geboren, die einzige Tochter nichtreligiöser jüdischer Eltern. Die Mutter Lucia Foligno starb, als sie noch nicht einmal ein Jahr alt war.

Als Jüdin, so berichtete Segre später, entdeckte sie sich erst durch die italienischen Rassegesetze von 1938: Sie musste die Schule verlassen. Nachdem ihr Vater und sie sich jahrelang bei Freunden hatten verstecken können, versuchten sie zusammen mit zwei von Lilianas Cousins 1943 die Flucht in die Schweiz.

Primo Levis Bücher ließen sie sich selbst verstehen

Doch die Schweizer Grenzpolizei schnitt ihnen - wie so vielen Verfolgten - den rettenden Weg ab. Liliana und Alberto Segre wurden im Januar 1944 von Mailand aus nach Auschwitz deportiert. Sie sah den Vater auf der Rampe des KZ zum letzten Mal, er starb bereits Ende April.

Ihre Großeltern, bei denen die kleine Liliana nach dem frühen Tod der Mutter aufgewachsen waren, wurden wenig später verschleppt und starben unmittelbar nach ihrer Ankunft im Juni 1943 in der Gaskammer von Auschwitz.

Die 13-jährige wurde dreimal selektiert, leistete Zwangsarbeit in einer Munitionsfabrik von Siemens und überlebte den Todesmarsch nach Deutschland, auf den die SS die letzten Insassen nach der überstürzten Räumung des KZ im Januar 1945 trieb.

Die Befreiung erlebte Segre am 1. Mai 1945 im mecklenburgischen Malchow, einem Nebenlager von Ravensbrück - als eine der 25 italienischen Kinder und Jugendlichen unter 14 Jahren, die nach Auschwitz deportiert worden waren. Die übrigen 751 überlebten die Shoah nicht. Von ihrer Familie fand die junge Liliana Segre bei ihrer Rückkehr nach Italien nur noch die Eltern und Geschwister ihrer Mutter am Leben.

Aus dem Lager zu kommen war wie vom Mars auf der Erde zu landen

Liliana Segre, italienische Holocaust-Überlebende

In der Zeitung „Corriere della Sera“ schrieb Segre im September, wie sie es schaffte, mit dieser Vergangenheit ein Leben danach führen und später darüber reden und Zeugnis ablegen zu können. Als wichtigste Lektüre nannte sie einen viel älteren Auschwitz-Überlebenden, Primo Levi.

„Aus dem Lager zu kommen war wie vom Mars auf der Erde zu landen“, schreibt Segre – auf einer Erde, wo niemand ihr glaubte, glauben konnte, was sie erlebt hatte, wo sie als unverträglich, unverständlich, ja böse erschien. Es habe jene „Atempause” gebraucht, so der Titel eines Buchs von Levi, „um den Sinn fürs Menschliche zurückzubekommen, das Wenige, was möglich ist nach allem, was du gesehen hast”.

Der eigene Mann war in der Faschistenpartei aktiv

Ein Briefwechsel mit Levi über sein Buch „Die Untergegangenen und die Geretteten” habe sie später verstehen lassen, dass niemand, der zurückkam, wirklich gerettet war – auch sie nicht: „Damals verstand ich, warum es Zeiten gab, als niemand mich verstand, warum es so schwierig war, meinen Kindern zu antworten, wenn sie mich nach der Nummer auf meinem Arm fragten.” Das, was man ihr und anderen angetan habe, sei auch für die Überlebenden „die Verurteilung zum Untergang gewesen“.

Die Szene am Donnerstag im Senat dürfte noch auf eine weitere Weise schmerzhaft für Segre werden: Ihr eigener Mann war einst aktiv im postfaschistischen MSI – woran FdI-Mann La Russa sie kürzlich mit böser Höflichkeit erinnerte.

Alfredo Belli Paci, den sie mit 18 Jahren kennenlernte, ihr Ehemann bis zu seinem Tod 2007, war ein konservativer Jurist, zehn Jahre älter als Segre. Er hatte sieben deutsche Gefangenenlager ertragen müssen, weil er sich als 23-jähriger Offizier geweigert hatte, für Mussolinis Reststaat weiterzukämpfen.

Das hatte auch ihm Zwangsarbeit eingetragen, als „Militärinternierter“. So nannte Hitler die italienischen Verweigerer, die sein Regime dann ähnlich gnadenlos ausbeutete wie die rassisch verachteten slawischen und jüdischen Opfer.

Dennoch musste Segre ihren Mann – „er war die Liebe meines Lebens” – vor die Wahl stellen: Sie oder die Partei, der er wohl seines strikten Antikommunismus wegen beigetreten war. „Wir mussten uns wiederfinden. Oder uns trennen.“ Belli Paci entschied sich für seine Frau, mit der er drei Kinder hatte. „Wir erlebten deswegen noch 25 glückliche Jahre miteinander.“

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