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Eine Person mit mehreren Waffen auf einer Demo für das Recht, Waffen zu besitzen (Archivbild).

© Genna Martin/seattlepi.com/AP/dpa

Update

Massaker an christlicher Grundschule: Im Land der vielen Morde

Drei tote Kinder, drei tote Erwachsene: In Nashville im US-Bundesstaat Tennessee ist eine Frau Amok gelaufen. Es wird nicht das letzte Verbrechen dieser Art gewesen sein.

Sie eröffnet das Feuer und ermordet sechs Menschen, darunter drei Kinder. Um die Frau zu stoppen, wird sie selbst von Einsatzkräften der Polizei erschossen. Das Verbrechen wurde am Montagvormittag verübt. Die Täterin war einst selbst auf die christliche Privatschule in Nashville im US-Bundesstaat Tennessee gegangen. Bewaffnet war die 28-Jährige mit mindestens zwei Sturmgewehren und einer Handfeuerwaffe.

Wieder breiten sich Fassungslosigkeit und Entsetzen aus. Was tun gegen die Gewalt in einem Land, in dem Schießereien und Amokläufe zum traurigen Alltag gehören? US-Präsident Joe Biden hatte im Februar in seiner Rede zur Lage der Nation ein Verbot von Sturmgewehren gefordert. Wie vor knapp 30 Jahren müsse es ein Gesetz zur Abschaffung der automatischen Waffen geben, sagte er. Damals sei die Regelung ausgelaufen, daraufhin habe sich die Zahl der Toten durch Massaker verdreifacht. „Lassen Sie uns die Arbeit beenden“, rief Biden fast flehentlich, „verbieten Sie diese Sturmgewehre!“

Nichts geschah. „Es ist krank“, sagte der Demokrat jetzt erneut mit Blick auf die Schusswaffenattacke in Nashville. Ein Kind zu verlieren, sei der „schlimmste Albtraum“ für eine Familie, sagte Biden.

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Sechs Tage nach Bidens Rede an die Nation kamen bei einem Amoklauf in einer Universität im Bundesstaat Michigan drei Menschen ums Leben. Fünf weitere wurden mit schweren Verletzungen ins Krankenhaus gebracht. In einem Saal der Universität eröffnete der Täter, ein 43 Jahre alter Mann, das Feuer, dann floh er und brachte sich schließlich selbst um.

Landesweite Proteste gegen Waffengewalt

Begangen wurde das Verbrechen am Vortag des Jahrestages eines anderen Massakers, das in einer Bildungseinrichtung verübt worden war: Am 14. Februar 2018 hatte ein damals 19-Jähriger an einer Schule in Parkland (Florida) mit einem legal erworbenen halbautomatischen Gewehr 14 Jugendliche und drei Erwachsene erschossen. Das löste landesweite Proteste gegen Waffengewalt und für schärfere Waffengesetze aus.

Ein Polizist geht am Eingang der Covenant Schule vorbei.
Ein Polizist geht am Eingang der Covenant Schule vorbei.

© dpa/John Amis

Doch bereits drei Monate später, am 18. Mai 2018, schießt ein 17-jähriger Schüler an der Santa Fe High School in der texanischen Stadt Santa Fe mit einem Sturmgewehr und einem Revolver seines Vaters auf Mitschüler. Er tötet acht Jugendliche und zwei Erwachsene.

Es folgen weitere tödliche Attacken an Schulen und Universitäten. Am 30. November 2021 erschießt ein 15-Jähriger in Oxford im Bundesstaat Michigan vier Mitschüler und verletzt sieben weitere. Am 24. Mai 2022 erschießt ein 18-Jähriger in einer Grundschule in der texanischen Kleinstadt Uvalde 19 Kinder und zwei Lehrer.

Und schließlich: Am 6. Januar 2023 schießt ein sechsjähriger Erstklässler in einer Grundschule in der Kleinstadt Newport News im Bundesstaat Virginia auf seine 25 Jahre alte Lehrerin und verletzt sie schwer. Die Waffe hatte der Mutter des Jungen gehört. Sie hatte sie legal erworben und zu Hause aufbewahrt. Laut „New York Times“ gab es seit 1970 bisher 16 Fälle mit Schützen unter zehn Jahren. Bei drei von ihnen seien Sechsjährige beteiligt gewesen.

Vollständig sind solche Chronologien nie. Das „Gun Violence Archive“ hat allein für das Jahr 2022 insgesamt 648 Massenschießereien gezählt. Bei 21 davon wurden mehr als vier Menschen getötet. 300 Millionen Schusswaffen sind in den USA im Umlauf.

Rund 40 Prozent der Amerikaner leben in einem Haushalt, in dem es ein Gewehr oder eine Pistole gibt. Etwa die Hälfte der weißen Männer besitzt eine Waffe, auf dem Land sind es mehr als in der Stadt. Doppelt so viele Republikaner wie Demokraten haben eine Schusswaffe.

Die Einwanderer setzten Waffen gegen die indigene Bevölkerung ein

Das Recht auf Waffenbesitz garantiert der zweite Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten, verabschiedet am 15. Dezember 1791. Darin heißt es: „Da eine wohlregulierte Miliz für die Sicherheit eines freien Staates notwendig ist, darf das Recht des Volkes, Waffen zu besitzen und zu tragen, nicht beeinträchtigt werden.“ Gleichberechtigt steht dieses Recht neben den traditionellen Freiheitsrechten wie der Rede-, Religions-, Versammlungs- und Pressefreiheit.

Heute gilt das Recht für alle Amerikaner. Doch historisch gesehen sind öffentlich getragene Waffen ein weißes Privileg. Es ist verbunden mit Sklavenhaltern und Siedlern, dem Kampf um die Unabhängigkeit, dem Schutz von Landbewohnern vor Verbrechern und religiöser Organisationen vor staatlicher Willkür.

Im Waffenkult drückt sich ein tief sitzendes Misstrauen gegenüber dem Staat aus

Die Einwanderer setzten Waffen gegen die indigene Bevölkerung ein und um Sklavenaufstände niederzuschlagen. Britische Soldaten versuchten immer wieder, amerikanische Siedler zu entwaffnen, um die Abspaltung der Kolonien zu verhindern. Ohne Erfolg. Seitdem bedeuten eigene Waffen im kollektiven Gedächtnis vieler Amerikaner Macht, Unabhängigkeit, Selbstverteidigung, Souveränität.

Deshalb stößt jeder Versuch, ins Waffenrecht einzugreifen, meistens auf erbitterten Widerstand. Jede Maßnahme steht im Verdacht, ein erster Schritt zur Abschaffung des Rechts zu sein. Im Waffenkult drückt sich ein tief sitzendes Misstrauen gegenüber dem Staat und der Regierung im fernen Washington D.C. aus. Dieses Misstrauen geht einher mit diversen Verschwörungsmythen über Politiker, die die Freiheiten der Bürger einschränken wollen, um sie noch besser kontrollieren zu können.

Viele geschichtliche Stränge kommen im strikten Festhalten an das uneingeschränkte Waffenrecht zusammen: die Besiedelung des „Wilden Westens“, der Kampf um die Unabhängigkeit, die Verteidigung der eigenen Religion gegen staatliche Einmischung. Hinzu kommt das Sicherheitsbedürfnis von Menschen, die weit verstreut auf dem Land leben. Dort heißt die Devise: „Wenn Sekunden zählen, ist die Polizei Minuten entfernt.“

Zuletzt wird das Recht, eine Waffe zu tragen, auch als anti-totalitäres Charakteristikum eines freiheitlichen Gemeinwesens verstanden. In kommunistischen und faschistischen Regimen wäre ein solches Recht unvorstellbar, heißt es. Mitunter wird auf den Holocaust verwiesen: Hätten die Juden in Nazi-Deutschland Waffen gehabt, hätten sie sich wehren können.

Schusswaffen als Teil der Identität: Der Preis dafür ist hoch. Nach dem letzten Massaker ist vor dem nächsten Massaker.

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