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Anhänger von Präsident Erdogan versammeln sich vor dem Hauptquartier der Regierungspartei AKP.

© AFP/ADEM ALTAN

Stichwahl in der Türkei: Kann sich Präsident Erdogan doch im Amt halten?

Einiges spricht dafür, dass der türkische Präsident den zweiten Durchgang der Wahl am 28. Mai gewinnen wird. Drei Experten erklären die Gründe.

Can Dündar hat wenig Hoffnung. Der bekannte türkische Journalist, der seit einigen Jahren im Berliner Exil lebt, glaubt, dass Recep Tayyip Erdogan die Stichwahl am 28. Mai gewinnen werde. Daran gibt es für ihn kaum Zweifel. Das enge Ergebnis zwischen dem amtierenden türkischen Präsidenten und seinem Herausforderer Kemal Kilidaroglu komme wenig überraschend. Die Wähler hätten sich bei ihrer Entscheidung von Angst leiten lassen, anstatt auf Wandel zu setzen. Erdogan habe es verstanden, diese Karte zu spielen.

„Er hat systematisch Angst und Hass verbreitet,“ sagt Dündar. Wenn die Menschen sich zwischen Demokratie und Sicherheit entscheiden müssten, würden sie oft auf Sicherheit setzen. Das sei ein globaler Trend, der nicht nur in der Türkei, sondern auch in Belarus, Polen, Ungarn zu beobachten sei. Er führe zum Erstarken rechter Politik, die auf Nationalismus und Populismus gründe.

Dass in den Gebieten, die im Februar unter den Erdbeben gelitten hätten, ein hoher Anteil der Stimmen auf Erdogan entfallen sei, habe ihn nicht verwundert, erklärt Dündar. Erdogan habe den Menschen kurz vor der Wahl versprochen, Häuser zu bauen. Die Tendenz, dass Menschen sich in schweren Krisen an autokratische Herrschaft klammerten, sei ebenfalls ein weltweites Phänomen.

Hinzu komme der besondere Stellenwert der Religion, der in der Türkei in den vergangenen zwei Jahrzehnten deutlich gewachsen sei. „Erdogan hat in den 21 Jahren, die er an der Macht ist, eine neue Generation religiöser Menschen hervorgebracht,“ erläutert Dündar. „Er hat das säkulare Bildungssystem zerstört und es durch ein religiöses ersetzt.“

Erdogan hat in den 21 Jahren, die er an der Macht ist, das säkulare Bildungssystem zerstört und es durch ein religiöses ersetzt.

Can Dündar, türkischer Exiljournalist

Viele Menschen hätten große Hoffnung in die junge Generation gesetzt, sagt Dündar. „Sie glaubten, dass die 6,6 Millionen Jungwähler, die nun zum ersten Mal abstimmen durften, den Ausschlag in Richtung Wandel geben würden. Aber das scheint nicht der Fall gewesen zu sein.“

Rosa Burc vom Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) betont, dass die kurdischen Wähler am Sonntag für Wandel gestimmt hätten. In allen wichtigen kurdischen Abstimmungsbezirken sei der oppositionelle Herausforderer mit einem klaren Vorsprung gewählt worden. „Sie haben strategisch gewählt“, sagt die Soziologin.

Bewusst sei kein eigener Kandidat ins Rennen geschickt worden, „um die Stimmen der Opposition bei der Präsidentschaftswahl nicht zu teilen“. Kilicdaroglu sei angerechnet worden, dass er „in einem hyper-nationalistischen Klima den Dialog mit kurdischen Vertretern gesucht hat“ und tabuisierte Themen wie die Situation der Kurden und Aleviten offen angesprochen habe.

In einer Stichwahl wird der Druck auf Kilicdaroglu hoch sein, auf einen anti-kurdischen und nationalistischeren Kurs einzulenken.

Rosa Burc, politische Soziologin am Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM)

Ob Kilicdaroglu in einer Stichwahl mit derselben massiven Unterstützung der Kurden rechnen könne, ist für Burc allerdings offen. Er bräuchte die Stimmen des Ultranationalisten Sinan Ogan, der mit 5,3 Prozent auf dem dritten Platz landete. „In einer Stichwahl wird der Druck auf Kilicdaroglu hoch sein, auf einen anti-kurdischen und nationalistischeren Kurs einzulenken“, fürchtet Burc. Wie die Kurden in zwei Wochen wählen, werde vor allem davon abhängen, wie Kilicdaroglu mit dieser Frage umgehe.

Der Soziologe und Türkei-Experte Friedrich Püttmann erklärt das Wahlergebnis vom Sonntag mit den „unterschiedlichen Lebensrealitäten“ in der Türkei. „Sie reicht von der englischsprechenden und um die Welt fliegenden Unternehmerin bis zu Männern mit zwei Ehefrauen und wenigen Türkischkenntnissen in den Dörfern im Südosten des Landes“, sagt der Wissenschaftler.  Wer die Türkei und das Wahlergebnis verstehen wolle, müsse diese beiden Seiten im Kopf haben. 

Auch in der Stichwahl werde Erdogan sein „Charisma“ zugutekommen und die Kunst „zu jeder Krise das passende Narrativ“ zu finden. „So kann das Leiden vieler Türken unter der enormen Inflation noch so groß sein, wenn das Fernsehen sagt, dass es den Menschen in Deutschland noch schlechter gehe, dann kann die Krise nichts mit der experimentierfreudigen Wirtschaftspolitik des Präsidenten zu tun haben“, sagt Püttmann.

Wenn das Fernsehen sagt, dass es den Menschen in Deutschland noch schlechter gehe, dann kann die Krise nichts mit der experimentierfreudigen Wirtschaftspolitik des Präsidenten zu tun haben.

Friedrich Püttmann, Türkei-Experte und Soziologe an der London School of Economics und an Sciences Po Paris

Erdogan werde in der Stichwahl ebenfalls davon profitieren, dass er immer noch als „Verteidiger der Interessen des kleinen Mannes wahrgenommen wird – wirtschaftlich wie kulturell“. Auch hätten die Wahlen vom Sonntag gezeigt, „wie sehr die Türkei noch heute von einem Ein-Mann-System beherrscht wird“. Das werde sich in den kommenden zwei Wochen nicht ändern.

Die türkische Politik sei von einem „extremen Lagerdenken“ geprägt. Daher hätten selbst jene, die sich von Erdogan abgewendet hätten, Angst, sie könnten bei einem Sieg der Opposition keine Hilfe beim Wiederaufbau bekommen — „sozusagen aus Rache an ihnen“.

Die Opposition hätte versucht, diese Sorgen zerstreuen, aber offensichtlich erfolglos. „Die Identitätspolitik übertrumpft selbst jetzt noch alles andere“, analysiert Püttmann.

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