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Die Menschen in der stark vom Erdbeben betroffenen Region Hatay in der Türkei verzweifeln.

© AFP/Ozan Kose

Sechs Monate nach dem Erdbeben in der Türkei: „Wir wollen in die Zukunft blicken, aber wir sehen keine“

Kaum Trinkwasser, wenig funktionierende Krankenhäuser: Ein halbes Jahr nach Erdbeben in der Türkei verzweifeln die Opfer. Und auch die Erde bebt weiter.

Ein halbes Jahr ist seit der Erdbebenkatastrophe in der Türkei vom Februar vergangen, doch im Unglücksgebiet ist selbst das Notwendigste noch knapp. Wenn in der Provinz Hatay zwischen den Trümmern zerstörter Häuser ein Lastwagen mit Trinkwasser auftaucht, bilden sich sofort lange Schlangen von Wartenden.

„Erst gestern habe ich einen Lkw gesehen, vor dem tausend Leute anstanden“, sagt der Arzt Sevdar Yilmaz. „Wir verlieren inzwischen die Hoffnung.“

Am 6. Februar stürzten zwei mächtige Erdstöße die rund 14 Millionen Bewohner einer Region von Adana am Mittelmeer bis ins 500 Kilometer weiter östlich gelegene Diyarbakir ins Unglück. Einer ersten Erschütterung um vier Uhr morgens mit der Stärke 7,8 folgte kurz nach Mittag ein weiterer Schlag der Stärke 7,7.

Wo hundert Lastwagen gebraucht würden, gibt es nur zehn.

Sevdar Yilmaz, Vorsitzender der Ärztekammer von Hatay

Rund 52.000 Menschen starben, 800.000 Gebäude stürzten ein oder sind wegen schwerer Schäden unbewohnbar.

Elf der 81 Provinzen der Türkei waren betroffen. Millionen Menschen wurden obdachlos und mussten in Zelten untergebracht werden. Hatay gehörte zu den am schwersten getroffenen Gebieten. Im benachbarten Syrien kamen mehr als 8000 Menschen ums Leben.

Die Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan reagierte zunächst planlos und langsam. Einige Staatsvertreter gerieten darüber hinaus in den Verdacht, sich bereichern zu wollen: Der Chef des türkischen Roten Halbmondes, Kerem Kinik, ließ Zelte an eine private Hilfsorganisation verkaufen, statt sie gratis an die Erdbebenopfer zu verteilen. Kinik wies alle Vorwürfe zurück, musste im Mai aber zurücktreten.

52.000
Menschen starben durch das Erdbeben am 6. Februar.

Inzwischen sind die Zeltstädte vielerorts festeren Container-Unterkünften gewichen. Die Zahl der Menschen, die in Zelten leben müssen, ist nach Angaben des Innenministeriums von 2,6 Millionen im April auf 32.000 im Juni gesunken. Erdogan verspricht den Wiederaufbau der Region in Rekordzeit.

Allein in Hatay läuft nach Behördenangaben der Bau von 31.000 Wohnungen. Insgesamt sollen 650.000 Gebäude im Katastrophengebiet neu gebaut werden, die Hälfte davon innerhalb eines Jahres.

Doch in schwer getroffenen Gegenden wie Hatay sehen die Menschen kaum Fortschritte. In der Provinzhauptstadt Antakya, dem biblischen Antiochien, sind acht von zehn Wohnhäusern nicht mehr bewohnbar. In den Wochen nach dem Februar-Beben verließ jeder zweite der rund 200.000 Bewohner die Stadt.

Bei schweren Fällen schicken wir die Patienten per Krankenwagen ins nächste funktionierende Krankenhaus. Das sind mindestens zwei Stunden Fahrt.

Sevdar Yilmaz, Vorsitzender der Ärztekammer von Hatay

Bis heute konnte in Antakya keine stabile Trinkwasserversorgung für die verbliebenen Einwohner aufgebaut werden, wie Sevdar Yilmaz kritisiert. Als Vorsitzender der Ärztekammer in Hatay erlebt er in der Sommerhitze von 40 Grad derzeit einen steilen Anstieg von Durchfallerkrankungen: eine Folge mangelnder Hygiene wegen des Wassermangels, wie er unserer Zeitung sagte. „Manche fallen in Ohnmacht, weil sie nicht genug trinken.“

Nach dem Erdbeben in der Türkei hängt ein Mann im Februar in Antakya rote Ballons an die Trümmer. Es sollen die „letzten Spielzeuge“ der Kinder sein, die beim Erdbeben im Februar 2023 umgekommen waren.
Nach dem Erdbeben in der Türkei hängt ein Mann im Februar in Antakya rote Ballons an die Trümmer. Es sollen die „letzten Spielzeuge“ der Kinder sein, die beim Erdbeben im Februar 2023 umgekommen waren.

© AFP/Sameer Al-Doumy

Schon vor dem Beben hätten die Leute das Leitungswasser in Antakya vor dem Trinken filtern müssen – seit der Katastrophe sei es völlig ungenießbar, sagt Yilmaz. Auch Wasser für Dusche und Toilette fehlt häufig, denn an manchen Tagen kommt überhaupt kein Wasser aus dem Hahn.

„Die Menschen werden deshalb per Lastwagen mit Trinkwasser in Plastikflaschen versorgt“, sagt Yilmaz. „Aber manchmal kommt eben kein Lastwagen, das geht dauernd so. Und wenn man etwas bekommt, reicht es nur für ein paar Tage.“

Die Kapazitäten der Katastrophenschutzbehörde Afad, die das Wasser gratis verteilt, reichten nicht aus. „Wo hundert Lastwagen gebraucht würden, gibt es nur zehn. Außerdem gibt es wegen der vielen Plastikflaschen viel mehr Müll als vorher.“

Wer bei der Wasserausgabe am Lastwagen zu kurz kommt, kann zwar Wasser in Läden und Supermärkten kaufen. Aber das ist für viele Familien, die mit dem staatlichen Mindestlohn von 385 Euro im Monat auskommen müssen, sehr teuer, wie Yilmaz sagt.

Die Stadtverwaltung hat kein Geld, um zerstörte Trinkwasserleitungen zu reparieren, und von der Zentralregierung in Ankara kommt längst nicht so viel an Unterstützung im Erdbebengebiet an, wie gebraucht würde: Der wirtschaftliche Gesamtschaden des Erdbebens beläuft sich auf mehr als 100 Milliarden Dollar.

Der Trinkwassermangel ist nicht das einzige lebensgefährliche Alltagsproblem in Hatay. Wie die Zeitung „Cumhuriyet“ aus der Provinz berichtete, werden beim Abriss beschädigter Gebäude häufig Stromleitungen zerstört, so dass in den betroffenen Stadtvierteln stundenlang der Strom ausfällt. Bewohner von Notunterkünften in Hatay berichten von Skorpionen und Schlangen in ihren Behausungen.

Potenziell noch schlimmer ist der Schutt. Mehr als hundert Millionen Kubikmeter Steine und Gebäudeteile haben die Erdbeben vom Februar in der Türkei nach Schätzungen der UN-Entwicklungsorganisation UNDP zurückgelassen. Experten kritisieren, dass bei der Entsorgung der Trümmerberge nicht genügend auf Asbest und andere gefährliche Stoffe geachtet wird.

Deshalb kommt nach ihrer Einschätzung in den kommenden Jahren eine neue Katastrophe auf die Türkei zu: Mindestens drei Millionen Menschen könnten wegen der Verseuchung mit Asbest oder anderen Substanzen erkranken.

Wir wollen in die Zukunft blicken, aber wir sehen keine Zukunft.

Sevdar Yilmaz, Arzt in Hatay

Asbest ist seit zehn Jahren bei Neubauten in der Türkei verboten, doch die meisten eingestürzten Häuser wurden vorher errichtet. Außerdem findet sich das krebserregende Mineral auch in Neubauten, weil mancherorts trotz des Verbots weiter mit Asbest gearbeitet wurde, wie die Zeitung „Hürriyet“ nach dem Erdbeben berichtete.

Blei und giftige Stoffe in Lacken, Farben und Fugendichtungen sind weitere Gefahren, die von den zerstörten Gebäuden ausgehen können.

Sevdar Yilmaz und seine Kollegen können nicht viel tun, um Kranken oder Verletzten zu helfen. Mehr als eine Erstversorgung sei in Hatay derzeit nicht drin, weil die meisten Krankenhäuser wegen Erdbebenschäden geschlossen seien, sagt der Ärztekammer-Chef.

„Bei schweren Fällen schicken wir die Patienten per Krankenwagen ins nächste funktionierende Krankenhaus. Das sind mindestens zwei Stunden Fahrt, dabei geht es in manchen Fällen um Minuten.“

Zudem bebt die Erde in der Gegend weiter. Zwei Wochen nach dem Februar-Beben wurde Hatay von einem Erdstoß der Stärke 6,4 erschüttert, vor einigen Tagen wurde ein Beben von 3,7 gemessen. Vorige Woche trieb ein Erdbeben der Stärke 5,5 die Menschen in der Nachbarprovinz Adana auf die Straße.

Der Arzt Yilmaz, der sein ganzes Leben in Hatay verbracht hat, sieht schwarz für seine Heimat. „Wir wissen nicht, was in ein paar Monaten sein wird“, sagt er. „Wir wollen in die Zukunft blicken, aber wir sehen keine Zukunft.“

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