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Eine der letzten Ladungen: Auf dem Frachtschiff TQ Samsun befinden sich Tausende Tonnen Agrargüter aus der Ukraine.

© REUTERS/MEHMET CALISKAN

Erdogan brüskiert, UN enttäuscht : Reißt Putin jetzt die letzten diplomatischen Brücken ab?

Russland hat das Getreideabkommen mit der Ukraine gestoppt. Die Vereinten Nationen wollen verhandeln, während Putin die Hafenstadt Odessa bombardieren lässt. Eine Einigung ist derzeit kaum vorstellbar.

Von Jan Dirk Herbermann

Es war die vorläufig letzte Fahrt. Das Frachtschiff TQ Samsun verließ am Sonntag den Hafen von Odessa in der Ukraine mit dem Ziel Niederlande. An Bord befanden sich Tausende Tonnen Agrargüter.

Die TQ Samsun war das Schiff Nummer 1004, das im Rahmen der Schwarzmeer-Getreide-Initiative in einem Hafen der Ukraine in See gestochen war. Sie erreichte unbeschadet durch einen sogenannten humanitären Korridor den Bosporus. Ob und wann weitere Schiffe mit Lebensmitteln in ukrainischen Häfen auslaufen, ist unklar.

Denn Russlands Präsident Wladimir Putin verweigerte am Montag die Verlängerung der Getreide-Initiative. Das Abkommen sei „nicht mehr gültig“ erklärte Putins Sprecher Dmitri Peskow. Das Koordinierungszentrum in Istanbul zur Umsetzung des Abkommens erklärte Russland für aufgelöst. Peskow warnte die Ukraine vor weiteren Exporten über das Schwarze Meer. In der Nacht griff Russland die für Getreideexporte wichtige Hafenstadt Odessa sowie Mykolajiw an.

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Der russische Außenminister Sergej Lawrow sagte seinem türkischen Kollegen Hakan Fidan in einem Telefonat, mit dem Ende des Abkommens ziehe Moskau auch seine Sicherheitsgarantien für die Schifffahrt im Nordwesten des Schwarzen Meers zurück. Damit gebe es dort nun wieder „eine temporär gefährliche Zone“. 

Ist eine pragmatische Einigung möglich?

Damit endet eine historisch möglicherweise einzigartige Vereinbarung zwischen Kriegsgegnern: Das knapp ein Jahr alte Abkommen ermöglichte trotz des russischen Angriffskrieges die sichere Verschiffung von Agrargütern aus der Kornkammer Ukraine über das Schwarze Meer.

Ein UN-Beamter des Gemeinsamen Koordinierungszentrums führt eine Inspektion an Bord des mit Getreide beladenen Massengutfrachters «TQ Samsun» aus Odessa durch.
Ein UN-Beamter des Gemeinsamen Koordinierungszentrums führt eine Inspektion an Bord des mit Getreide beladenen Massengutfrachters «TQ Samsun» aus Odessa durch.

© dpa/Uncredited

Für den weltweiten Kampf gegen den Hunger war die Initiative „unverzichtbar“, wie UN-Generalsekretär António Guterres betont. Die Lebensmittelpreise seien seit März letzten Jahres auch Dank der initiative um über 23 Prozent gesunken. Die Vereinbarung zwischen Russland und der Ukraine mit dem Partner Türkei und den Vereinten Nationen als Vermittler galt zudem als vertrauensbildende Maßnahme.

Sie zeigte, dass die verfeindeten Staaten sich pragmatisch einigen können. Immerhin wollen die UN versuchen, den Deal in irgendeiner Form zu retten. Dabei muss Guterres neben Putin auch die Präsidenten der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj und der Türkei, Recep Tayyip Erdogan, einbinden.

Kiew wirft Russland vor, die Inspektionen zu verzögern

Selenskyj jedenfalls will die Initiative weiterführen – ohne Russland. Es müsse „alles getan werden, damit wir diesen Schwarzmeer-Korridor nutzen können“, sagte Selenskyj gemäß einem Sprecher. „Wir wurden von Unternehmen angesprochen, die Schiffe besitzen. Sie sagten, sie seien bereit, wenn die Ukraine es zuließe und die Türkei die Schiffe passieren ließe.“

Der ukrainische Präsident befürchtet, dass Russland die Häfen seines Landes wieder blockieren wird. Vorerst muss die Ukraine ihre Agrargüter vermehrt über Flüsse, Straßen und Schienen ausführen – diese Wege können schon volumenmäßig die Exporte über das Schwarze Meer nicht ersetzen.

33
Millionen Tonnen landwirtschaftlicher Waren wurden dieses Jahr aus Osteuropa ausgeführt.

Bislang wurden im Rahmen der Initiative innerhalb eines knappen Jahres laut den UN fast 33 Millionen Tonnen landwirtschaftlicher Waren aus dem osteuropäischen Land ausgeführt, das zu den Agrar-Großmächten zählt.

Zum Vergleich: Gemäß den „Hellenic Shipping News“ hatten die gesamten Getreideexporte der Ukraine in der Saison von Juli 2021 bis Juni 2022 rund 48 Millionen Tonnen erreicht. Doch schon in den vergangenen Monaten ging die Menge des exportierten Getreides und anderer Güter aus der Ukraine zurück. Kiew warf der Putin-Regierung vor, die vereinbarten Inspektionen zu verzögern.

Putin hält sich zurück

Putin selbst hält sich mit Kommentaren über die Schwarzmeer-Getreide-Initiative zurück. Der Machthaber im Kreml lässt lieber seine Gefolgsleute sprechen. Kurz vor Ablauf der letzten Frist hatte Außenminister Lawrow gepoltert: „Ich weiß nicht, welche Argumente diejenigen vorbringen können, die die Schwarzmeer-Initiative fortsetzen wollen.“

Ich weiß nicht, welche Argumente diejenigen vorbringen können, die die Schwarzmeer-Initiative fortsetzen wollen.

Sergei Lawrow, Russlands Außenminister

Putin hatte der Initiative am 22. Juli 2022 eher zähneknirschend zugestimmt. Als ungleiche Parteien schlossen die Ukraine, Russland und die Türkei in Istanbul den Vertrag, vermittelt hatte UN-Generalsekretär Guterres. In der türkischen Metropole kam auch eine zweite Vereinbarung zwischen den UN und Russland zustande.

In einem „Memorandum“ willigten die UN ein, sich für die ungehinderte Ausfuhr russischer Lebensmittel und Düngemittel auf die Weltmärkte einzusetzen. Mit dem Memorandum kaufte Guterres gewissermaßen die Zustimmung Putins zur Schwarzmeer-Getreide-Initiative. Doch behaupten die Russen, sie seien überrumpelt worden und profitierten nicht. Sie stellen Forderungen: So soll die Russische Landwirtschaftsbank (Rosselkhozbank) wieder an das internationale SWIFT-Zahlungssystem angebunden werden.

Nach dem russischen Ausstieg gab sich Guterres tief „enttäuscht“. Immerhin markierte das Abkommen auch einen persönlichen Erfolg für den UN-Generalsekretär. Bis zuletzt hatte Guterres versucht, Putin zu einer abermaligen Verlängerung zu bewegen. In einem Brief an Putin hatte Guterres konkrete Vorschläge unterbreitet, unter Einbeziehung der US-amerikanischen Bank J.P. Morgan.

„Wir haben über J.P. Morgan einen maßgeschneiderten Zahlungsmechanismus für die Russische Landwirtschaftsbank außerhalb von SWIFT entwickelt“, schrieb Guterres. Auch der türkische Präsident Erdogan dürfte sich von dem Nein aus Moskau brüskiert fühlen. Wenige Tage vor Ablauf der Frist hatte Erdogan noch wissen lassen, er und Putin „stimmen über die Verlängerung“ der Initiative überein.

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