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Russlands Präsident Wladimir Putin kommt der nationalistische Traum des ungarischen Premiers Viktor Orban gelegen.

© Imago/Mikhail Metzel

Orbans Traum von „Großungarn“: Russisch-orthodoxe Kirche liefert Ukrainer aus – ohne Kiew zu informieren

Drei der elf ausgelieferten Personen aus der ukrainischen Grenzregion Transkarpatien halten sich noch immer in Ungarn auf. Will Russland den Westen damit bewusst destabilisieren?

Das Verhältnis zwischen Ungarn und der Ukraine ist aufgrund der Russlandnähe der Regierung von Premier Viktor Orban nicht erst seit Beginn des russischen Angriffskriegs belastet. Budapest hält sich als einziges Nato-Mitglied mit der Unterstützung Kiews zurück – und nicht nur das. Nun gibt es auch einen Affront auf diplomatischer Ebene.

Im Juni hatte die russisch-orthodoxe Kirche bekannt gegeben, dass eine Gruppe von elf mutmaßlichen ukrainischen Kriegsgefangenen, die aus der grenznahen ukrainischen Region Transkarpatien stammen, im Rahmen des sogenannten „zwischenkirchlichen Dialogs“ von Russland an Ungarn übergeben worden sei. Es war das erste Mal seit Beginn des Krieges, dass die ukrainischen Behörden nicht über die Einzelheiten eines mutmaßlichen Gefangenenaustauschs informiert wurden.

Einen Monat nach dem diplomatischen Skandal halten sich drei der von Russland überstellten Ukrainer weiterhin in Ungarn auf. „Drei Personen haben Ungarn in andere Länder verlassen, fünf sind nach Hause zurückgekehrt“, teilte Dmytro Lubinets, der ukrainische Parlamentsbeauftragte für Menschenrechte, mit.

Und schon bald könnte es einen weiteren „Austausch“ geben. Tagesspiegel-Quellen in ukrainischen Geheimdienstkreisen bestätigen, dass noch im August weitere Ukrainer in Ungarn landen sollen.

Eine besondere Operation zur erneuten Destabilisierung?

„Ich denke, es handelt sich um ein ziemlich kompliziertes Spiel der russischen Seite, das vor allem darauf abzielt, den Krieg zu internationalisieren. Bildlich gesprochen handelt es sich um eine Taktik der kleinen Fouls, denn das Ziel ist, schwelende Konflikte zu verstärken“, sagt der ukrainische Analyst Jewhen Magda.

Der Hintergrund: In der zur Ukraine gehörenden Region Transkarpatien gibt es viele Ungarn – verschiedenen Studien zufolge zwischen 100.000 und 150.000 Menschen, was etwa zehn Prozent der Einwohner in der Region ausmacht. Viele Schulen bieten hier Ungarisch als Lernsprache an und die Behörden des Nachbarlandes haben in der Vergangenheit viel in die Entwicklung der lokalen Gemeinschaften investiert.

Die Russen haben direkten Einfluss auf die Situation.

Oleksandr Kononenko, ukrainischer Offizieller

Seit der Unabhängigkeit sind die Ukrainer oft durch den Begriff „transkarpatischer Separatismus“ verängstigt worden. Mitten in der russischen Aggression im Jahr 2014 begann der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban plötzlich, Autonomie für die Ungarn in der Ukraine zu fordern.

Im November 2022 trat Orban sogar in der Öffentlichkeit mit einem Schal auf, auf dem eine Karte von „Großungarn“ abgebildet war. Diese Karte wies Gebiete als ungarisch aus, die bis zum Ende des Ersten Weltkriegs zum Königreich Ungarn gehörten. Neben Grenzregionen in Österreich, der Slowakei, Rumänien, Kroatien und Serbien eben auch: Transkarpatien.

Ukraine kennt den genauen Status der Ausgelieferten nicht

„Die Russen haben direkten Einfluss auf die Situation. Diese Soldaten haben sie absichtlich an die ungarische Seite übergeben. Ich denke, unter anderem in der Hoffnung auf eine Art Destabilisierung der transkarpatischen Region“, sagte Oleksandr Kononenko, ein Vertreter des Menschenrechtsbeauftragten des ukrainischen Parlaments, dem Tagesspiegel. Ihm zufolge wurden alle elf Soldaten von Russland in die Türkei geflogen. In der Türkei sollen sie dann in ein ungarisches Flugzeug umgestiegen sein.

„Es stellt sich die Frage, wie ihr Status jetzt ist. Sind sie gefangen genommen worden, werden sie vermisst oder haben sie die Militäreinheit unerlaubt verlassen? Wir haben keine vollständigen Informationen, die Konsuln dürfen sie nicht besuchen“, sagt Kononenko.

Ukraine sieht Verstoß gegen Genfer Konventionen

Der ukrainische Menschenrechtsbeauftragte, Dmytro Lubinets, erhielt erst Ende Juli eine formelle Antwort von seinem ungarischen Amtskollegen zu dieser Situation. „Zumindest haben wir jetzt eine Art Dialog über diese Situation begonnen“, sagte er.

Aus völkerrechtlicher Sicht sei der Vorgang ein Verstoß gegen die Genfer Konventionen, so die ukrainische Seite. „Ungarn hat die ukrainische Seite in keinster Weise informiert“, erklärt Oleksandr Kononenko. Normalerweise hat die Ukraine während eines solchen Austauschs Vermittler. Als Beispiel nannte er die Verhandlungen zwischen drei Parteien unter UN-Garantien – der Türkei, der Ukraine und Russland – bei der Verlegung von Asowstal-Verteidigern aus Mariupol.

Der ungarische Ministerpräsident Orban hat sich nicht zu der Situation geäußert – sehr wohl aber Außenminister Péter Szijjártó. „Er sagte, dass der ungarische Vizepremierminister Zsolt Semjén eigenständig gehandelt habe und niemand sonst informiert wurde. Das ist schwer zu glauben“, sagt Oleksandr Kononenko. „Wenn dem so ist und er Ungarn irgendwie geschadet hat, warum ist er dann noch nicht zurückgetreten?“

Die Kirche hat beschlossen zu zeigen, dass sie auch ein Akteur ist.

Jewhen Magda, Politikwissenschaftler

Immer mehr ukrainische Kirchengemeinden wenden sich von der russisch-orthodoxen Kirche ab, die von Moskau aus gesteuert wird und den Krieg unterstützt hat. In den 1970er Jahren war das Oberhaupt Patriarch Kirill im Auftrag des Komitees für Staatssicherheit (KGB) der UdSSR an geheimdienstlichen Aktivitäten in Genf beteiligt.

Daher sind seine Aufrufe zur Unterstützung der Mobilisierung in Russland und seine Unterstützung für Wladimir Putin nicht überraschend. „Allen, die während des Krieges gestorben sind, werden ihre Sünden vergeben“, sagte Kirill in einer Predigt im September 2022.

2019 wurde in der Ukraine eine unabhängige orthodoxe Kirche gegründet, die nicht Moskau unterstellt ist. Seitdem hat Russland seine Versuche, „die Orthodoxen zu vereinen“, nicht aufgegeben.

„In Ungarn, wie auch in der Ukraine und Russland, ist die Kirche vom Staat getrennt. Nur macht die russische Kirche keinen Hehl aus ihrer Neigung, den Staat zu unterstützen. Meines Erachtens hat die russisch-orthodoxe Kirche beschlossen zu zeigen, dass sie auch ein Akteur ist“, sagt der ukrainische Politikwissenschaftler Jewhen Magda. Es sagt: „Ungarn spielt mit dem Leben der Menschen. Das ist äußerst zynisch. Ungarn behauptet, dass es die Menschen freilässt und sie Russland verlassen haben – frei sind sie aber nicht.“

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