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Unter den Tausenden eingestürzten Gebäuden im türkisch-syrischen Grenzgebiet sind vermutlich noch Zehntausende Erdbebenopfer zu befürchten.

© Francisco Seco / dpa

„Niemand hat reagiert“: Wissenschaftler beklagen ignorierte Erdbebenwarnungen

Nach den Beben klagen nun Forscher in der Türkei an, dass ihre Warnungen jahrelang überhört wurden. Die Folge dessen bringt auch sie aus der Fassung.

Die Erdbeben im Südosten der Türkei und Nordwesten Syriens ziehen eine akute humanitäre Krise in den betroffenen Regionen nach sich. In den betroffenen Regionen sind aktuellen Schätzungen zufolge über 35.000 Menschen gestorben, mehrere Zehntausend sind verletzt.

Rettungstruppen aus dem In- und Ausland arbeiten mit hohem Tempo fort, in der Hoffnung, Überlebende aus den Trümmern zu bergen. Die Katastrophe, von der türkische, kurdische und syrische Städte betroffen sind, kam nicht unvorhergesehen.

Der niederländische Forscher Frank Hoogerbeets vom Forschungsinstitut System Geometry Survey (SSGEOS) kommunizierte am 3. Februar Vorhersagen über die Möglichkeit eines schweren Erdbebens, das Hunderte Todesopfer und Tausende Verletzte zur Folge haben könnte. Das Institut überwacht die Geometrie von Himmelskörpern in Bezug auf seismische Aktivitäten.

Beben wurden angekündigt

„Früher oder später wird es in dieser Region (Süd-Zentral-Türkei, Jordanien, Syrien, Libanon) eine ~M 7,5 (#earthquake) geben“, schrieb er auf seinem Twitter-Account und teilte eine Karte, die das Epizentrum in Hatay zeigt.

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Als die Schätzungen drei Tage später eintrafen, ging der Tweet viral. „Woher wussten Sie das?“, schreiben User auf Türkisch. „Leute, das ist Wissenschaft, also das, worauf man bei uns nie gehört hat“, antwortet ein anderer.

Zum Narrativ einer Vorhersage twittert Hoogerbeets nachträglich: „Wir sprechen selten eine allgemeine Warnung für eine bestimmte Region aus, wie wir es am 3. Februar getan haben.“

Warnungen wurden ignoriert

Auch türkische Forscher:innen warnten wenige Tage zuvor vor den Beben. Naci Görür, einer der wichtigsten Wissenschaftler auf dem Gebiet der Erdbebenforschung in der Türkei, schrieb am 3. Februar auf seinem Twitter-Account:

Wir wurden als Unheilbringer bezeichnet. Man sagte uns, wir sollen den Menschen keine Angst machen.

Prof. Dr. Naci Görür, Geologe

„Es gab ein Erdbeben der Stärke 4,2 in Yarbaşı-Düziçi/Osmaniye. Das Erdbeben ereignete sich in der ostanatolischen Verwerfungszone. Wir sind besorgt über den Abschnitt Çelikhan-Erkenek-Maraş in diesem Gebiet. Dieser Abschnitt wurde durch das Elazığ-Erdbeben von 2020 am nordöstlichen Ende belastet. Das letzte Erdbeben an diesem Ende war das Adana-Erdbeben 1998.“

Der Forscher beklagt in einem Interview mit dem Nachrichtensender TGRT, niemand habe ihm und seinen Kollegen zugehört. Er sagt, sie seien damals als Unheilbringer bezeichnet worden, weil sie seit dem Erdbeben von 1999 in der Marmara-Region die Regierung stets gewarnt hatten:

„Als Geowissenschaftler haben wir immer wieder gesagt und geschrieben, dass dieses Erdbeben kommen wird. Niemand reagierte auf das, was wir sagten.“

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Man habe sie dazu angehalten, den Menschen keine Angst zu machen. „Jetzt schicken mir Verschüttete unter den Trümmern Videos zu, sprechen mich namentlich an und bitten mich um Hilfe.“ Er stoppt. „Ich muss weinen.“ Das Erdbeben von Gölcük ereignete sich im August 1999 in der Marmara-Region, damals verloren über 17.000 Menschen ihr Leben.

Wir machen hier keine Karriere. Wir versuchen nicht, uns zu profilieren.

Dr. Cenk Yaltırak, Geophysiker

Auch Fakultätsmitglied und Geophysik-Professor der Technischen Universität Istanbul Dr. Cenk Yaltırak musste während einer Live-Übertragung auf FOX TV unter Tränen mehrmals ansetzen, als er eine Warnung aussprach.

„Folgen Sie nicht den Scharlatanen. Wir machen hier keine Karriere. Wir versuchen nicht, uns zu profilieren. Die Marmara-Region macht 65 Prozent der türkischen Wirtschaft aus.“ Dann plädiert er für die Verlegung von Fabriken in die dünn besiedelten Städte Zentralanatoliens: „Machen Sie Istanbul, Izmit und Bursa nicht noch größer.“

Auf diese Weise könnten attraktive Arbeitsmöglichkeiten auch außerhalb der gefährdeten Region geschaffen und mehr Menschen zur Umsiedlung bewegt werden.

Weitere schwerwiegende Beben möglich

Für Istanbul schlagen die Forscher nicht erst seit den aktuellen Beben Alarm. Doch nun, scheint es, wird ihnen zugehört. Deutschen Forscher:innen zufolge wird in den nächsten Jahren ein weiteres schweres Erdbeben in der Region erwartet.

Selbst mit konkreten Zahlen ist die Katastrophe kaum zu fassen: Mehr als 22.000 Menschen sind durch die Erdbebenkatastrophe in der Türkei und in Syrien bislang ums Leben gekommen.

© Emrah Gurel / dpa

Heidrun Kopp vom Kieler Geomar Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung sagte der Deutschen Welle gegenüber, dass sich das letzte große Erdbeben dort 1766 ereignet habe und dass die Spannung in Istanbul seitdem allmählich zugenommen habe.

„Das ist eine ganze Menge“, sagte Kopp und erklärt, dass sich auch in Istanbul die angesammelte Spannung plötzlich entladen kann, wie es im Südosten der Türkei der Fall war.

Expert:innen sind sich einig: Nicht nur das Erdbeben als solches, auch der Zeitpunkt, die Jahreszeit, die Größe der entladenen Spannung, der Beschleunigungswert und die Nähe zu den Siedlungszentren machen dieses Beben in seiner Dimension so dramatisch.

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