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Keine Antwort auf die drängendsten Sicherheitsfragen: Finanzminister Christian Lindner, Außenministerin Annalena Baerbock. Kanzler Olaf Scholz, Verteidigungsminister Boris Pistorius und Innenministerin Nancy Faeser stellen die Nationale Sicherheitsstrategie vor.

© dpa/Michael Kappeler

Nationale Sicherheit und Heizungsgesetz: Die Ampel setzt die falschen Prioritäten

Die Weltlage ist bedrohlich, aber das Vorgehen der Ampel zeigt, sie hat die Zeitenwende nicht verinnerlicht. Bei der Sicherheitsstrategie lässt sie sich Zeit, bei der Gebäudeenergie agiert sie in Torschlusspanik.

Ein Kommentar von Christoph von Marschall

Tragen die Regierenden andere Uhren als die Regierten? Das Zeitmaß und die Dringlichkeitsgefühle der Ampelparteien unterscheiden sich jedenfalls gewaltig von denen der Bürgerinnen und Bürger. Sie stehen auch in auffälligem Kontrast zur Weltlage. Das zeigt der Umgang mit der Nationalen Sicherheitsstrategie und dem Heizungsgesetz.

In Sachen Gebäudeenergie agiert die Ampel in Torschlusspanik, als drohe der Untergang, wenn das Gesetz nicht vor der Sommerpause verabschiedet wird. Bei der Nationalen Sicherheitsstrategie lässt sich die Regierung alle Zeit und gibt keine Antworten, wie sie die drängendsten Herausforderungen in einer immer konfliktreicheren Welt bestehen will – und zwar nicht irgendwann, sondern in den nächsten zwei bis fünf Jahren.

Der Zeitdruck beim Heizungsgesetz ist künstlich. Es ist zu einer Machtfrage zwischen Grünen und Liberalen geworden, ob der Entwurf im Juni oder erst im September in den Bundestag geht.

Druck auf die Bürger, Zeit für Fernwärme-Konzerne

Für die Substanz wäre es besser, ein durchdachtes Gesetz im Herbst zu verabschieden als jetzt ein eilig zusammengeschustertes Flickwerk voller Widersprüche. Zu denen gehört, dass die Ampel den angeblichen Zeitdruck selbst dementiert. Der Preis des schnellen Kompromisses: Die Vorgabe, bestehende Gebäude auf klimafreundliche Energie umzustellen, wird um mehrere Jahre gestreckt.

In Sachen Fernwärme gibt die Ampel den großen Versorgern Jahrzehnte, um ihren Teil beizutragen, obwohl die Rettung des Klimas durch ein neues Heizungsgesetz angeblich nicht einmal ein paar Wochen warten kann. 5,5 Millionen der gut 40 Millionen Haushalte sind an Fernwärme angeschlossen. Bei einem Ausbauziel von 100.000 Wohnungen pro Jahr dauert es also 55 Jahre, um den Anteil auf elf Millionen zu verdoppeln; das wäre dann ein gutes Viertel der Haushalte.

CO-2-Neutralität wird im Berliner Fernwärmenetz für 2040 angestrebt. Da fragen sich wohl viele Eigenheimbesitzer: Warum zwingt die Ampel mich, meine Heizung schnell umzurüsten, wenn sie den Konzernen so viel Zeit lässt?

Was macht die Ampel, wenn Trump Präsident wird?

In Sachen nationale Sicherheit hingegen nimmt sich die Regierung Zeit, die das Land nicht hat. Das Papier enthält viele kluge Ideen für den Umgang mit einer multipolaren Welt und berücksichtigt wichtige Aspekte eines umfassenden Sicherheitsverständnisses, das über den militärischen Kern hinausgeht.

Aber es skizziert keine Handlungsansätze für die drängendsten Bedrohungen in der aktuellen Weltlage. Bereits im kommenden Jahr könnte der wichtigste Pfeiler der Sicherheit Risse bekommen: Falls Donald Trump 2024 wieder zum US-Präsidenten gewählt wird und die Nato abermals für „obsolet“ erklärt.

Wie will Deutschland, wie will Europa Sicherheit garantieren, wenn das Beistandsversprechen der USA nicht mehr gelten sollte? Wenn Trump zudem die US-Hilfe für die Ukraine in Frage stellt und Deutschland mehr schultern muss, sofern es verhindern will, dass Russland gewinnt, wie der Kanzler immer wieder beschworen hat?

Wie Berlin die USA vom Nutzen der Nato überzeugt

Darauf gibt die Ampel keine Antwort. Eine Vorkehrung könnte sein: Wir erschweren Trump die Argumentation, Deutschland und die EU seien Trittbrettfahrer, die ihre Sicherheit auf Kosten der US-Steuerzahler organisieren. Deutschland trägt den Anteil, der seiner Wirtschaftskraft entspricht, und überzeugt die Amerikaner so, dass die Nato im gegenseitigen Interesse liegt.

Die Ampel ist da nicht glaubwürdig. Der Kanzler hat im Entsetzen über den russischen Angriff auf die Ukraine vor 16 Monaten „dauerhaft zwei Prozent“ des BIP für Verteidigung zugesagt. Die sind in der Finanzplanung aber bis heute nicht zu finden. Dort werden die derzeit rund 1,3 Prozent für die absehbaren Jahre fortgeschrieben.

Was, wenn China Taiwan angreift?

Ein anderes Gefahrenszenario, das die halbe Welt seit Monaten diskutiert, ist ein potenzieller Angriff Chinas auf Taiwan in den kommenden Jahren. In einem solchen Fall würden die USA ebenfalls Kräfte hier abziehen. Deutschland und Europa müssten aus eigener Kraft Russland und andere Bedrohungen abwehren können. Auch darauf gibt die Sicherheitsstrategie keine Antwort.

Kanzler Scholz lobte bei der Vorstellung der Strategie, die Koalitionäre hätten eine gemeinsame Sprache gefunden. De-Risking, aber kein De-Coupling umschrieb er die China-Strategie.

Doch im Fall eines chinesischen Angriffs würde der Westen weitreichende Sanktionen beschließen. Deutschland könnte sich dem nicht entziehen. Die Vorstellung, es sei nicht Teil des Westens und könne sich wie eine große Schweiz eine Äquidistanz zwischen Amerika und China erlauben, ist Träumerei.

Die Einrichtung eines Nationalen Sicherheitsrat, der anfangs zum Kern der neuen Strategie gehören sollte, hat die Ampel aufgegeben. Aber nicht, weil man den nicht bräuchte. Sondern weil er zu Konflikt in der Koalition geführt hätte. Das grün geführte Außenministerium hätte Macht an das Kanzleramt verloren. Darf das der Maßstab für eine nationale Sicherheitsstrategie sein? Die soll das Beste für das Land leisten, unabhängig davon, wer gerade regiert.

Zur Frage, ob und wann Europa selbst Sicherheit garantieren könne, sagte Scholz, die europäischen Rüstungsprojekte seien „auf gutem Weg“. Es wird wohl mehr als ein Jahrzehnt dauern, ehe die neuen Panzer fahren und Kampfjets fliegen. Nur: Wer garantiert, dass die neue Weltunordnung Deutschland bis dahin nicht behelligt?

So zeigt das Vorgehen der Ampel: Sie hat die Zeitenwende nicht verinnerlicht. Selbst in existenziellen Fragen wie der nationalen Sicherheit triumphiert das Wunschdenken, es sei doch bisher gut gegangen und werde schon nicht so schlimm kommen.

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