zum Hauptinhalt
In Marokkos Hauptstadt Rabat wird ausgiebig gefeiert.

© AFP/FADEL SENNA

„Kritik an Katar befeuert Solidarität“: Marokkos WM-Erfolge machen die arabische Welt selbstbewusster

Außenseiter Marokko steht im Halbfinale der Fußball-WM. Vom Persischen Golf bis zur Atlantikküste schafft das ein neues Gefühl der Zusammengehörigkeit. Wie weit trägt es?

Autokorsos in Jordanien, feiernde Fans in Tunis und Kairo, Glückwünsche vom irakischen Prediger Moktada al Sadr und dem libyschen Ministerpräsidenten Abdulhamid al Dbeibah: Die Erfolge von Marokko bei der Fußball-Weltmeisterschaft in Katar und die Überraschungssiege anderer arabischer Mannschaften bei dem Turnier lassen den Nahen Osten seine vielen Konflikte und internen Streitereien zumindest vorübergehend vergessen.

In Europa ist das Turnier in Katar wegen der Ausbeutung von Arbeitern und der Strafverfolgung für Homosexuelle im Gastgeberland höchst umstritten – doch im Nahen Osten wurde die erste WM in einem arabischen Land zu einem durchschlagenden Erfolg.

Spektakuläre Siege arabischer Mannschaften gegen Fußball-Giganten wie Portugal, Argentinien und Spanien schufen vom Persischen Golf bis zur marokkanischen Atlantikküste ein neues Zusammengehörigkeitsgefühl.

Der Erfolg der marokkanischen Nationalmannschaft hat das Gefühl der arabischen Einheit verstärkt und lenkt von regionalen Zwistigkeiten und Rivalitäten ab.

Sebastian Sons, Experte für die Golfregion

Marokko, das erste arabische Land, das es bei einer WM unter die letzten Vier geschafft hat, stieg zum Liebling aller Araber auf. Nach dem Einzug der Nordafrikaner ins Halbfinale feierte die ganze Region von der irakischen Hauptstadt Bagdad über den Gaza-Streifen bis nach Casablanca.

Der Erfolg der marokkanischen Nationalmannschaft hat sicherlich das Gefühl der arabischen Einheit verstärkt und lenkt von regionalen Zwistigkeiten und Rivalitäten ab“, sagt Sebastian Sons, Experte für die Golf-Region bei der Bonner Denkfabrik Carpo.

„Der sportliche Erfolg Marokkos dient somit als kurzfristig einigende Klammer, stärkt das pan-arabische Selbstbewusstsein und wird als nationalistisches Symbol gegen das ehemals kolonialistische Europa instrumentalisiert“, so Sons im Gespräch mit dem Tagesspiegel.

Westliche Kritik wird in der arabischen Welt als Doppelmoral abgetan.

Kristof Kleemann, Libanon-Projektleiter der Friedrich-Naumann-Stiftung

Nicht nur die Unterstützung für Marokko eint die Araber bei der WM. Konsens herrscht auch in der Haltung zu den Beschwerden der Europäer: Westliche Kritik werde „in der arabischen Welt als Doppelmoral abgetan“, sagte Kristof Kleemann, Libanon-Projektleiter der Friedrich-Naumann-Stiftung.

„Auf der einen Seite werden Menschenrechte und Arbeitsbedingungen kritisiert, auf der anderen Seite ist der Westen gerne bereit, neue Gasabkommen abzuschließen.“

„Die Kritik des Westens an Katar hat die arabische Solidarität befeuert“, hat Kleeman beobachtet. „Das ist besonders bemerkenswert, da Katar noch vor ein paar Jahren von seinen arabischen Nachbarstaaten boykottiert wurde.“

Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate, Ägypten und Bahrain hatten 2017 alle Beziehungen zu Katar abgebrochen und das kleine Emirat isoliert. Die Blockade endete erst im vergangenen Jahr.

Der Emir von Katar (l.) und der saudische Kronprinz waren bis vor kurzem noch erbitterte Gegner.

© AFPBandar al Jaloud

Nun zeigten die Golf-Staaten bei der WM, dass sie den Streit beendet haben und der Außenwelt gegenüber mit neuer Einheit auftreten.

„Bei der Eröffnungsfeier saß der saudische Kronprinz Mohammed bin Salman mit dem katarischen Schal im Stadion“, sagt Kleemann. Katars Emir Tamim bin Hamid al Thani revanchierte sich, indem er sich nach dem Sieg Saudi-Arabiens über Argentinien im Stadion freudestrahlend die saudische Fahne um die Schultern legte.

Nach Überwindung ihres internen Krachs stehen die Golf-Staaten stärker da als je zuvor. Das Turnier fand zu einer Zeit statt, in der europäische Großmächte wie Deutschland wegen des Ukraine-Krieges dringend neue Energie-Lieferanten suchen.

Die WM habe die neuen Machtverhältnisse in der Region offen zu Tage treten lassen, bilanziert Kleemann: „Durch hohe Ölpreise und wirtschaftliche Reformen können die Golfstaaten vor Kraft kaum laufen.“ Von der WM gehe ein neues Signal des Selbstbewusstseins aus: „Konstruktive Beziehungen zum Westen sind willkommen, nur nicht mehr unter allen Bedingungen.“

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false