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Update

Kämpfe im russischen Belgorod: „Es ist ganz klar, dass diese Gruppe dem ukrainischen Militär untergeordnet ist“

Paramilitärische Gruppen starten von der Ukraine aus einen Angriff auf Gebiete in der russischen Region Belgorod. Die wichtigsten Fragen und Antworten zu den Ereignissen.

Kampfhandlungen auf russischem Gebiet gab es im Verlauf des russischen Angriffskriegs in der Ukraine bisher selten. Gerade deswegen wirft der Stoßangriff zweier paramilitärischer Gruppen im russisch-ukrainischen Grenzgebiet der Oblast Belgorod einige Fragen auf.

1. Wie ist die aktuelle Lage?

Am Montag waren Kämpfe im russischen Landkreis Graiworon an der Grenze zur Ukraine ausgebrochen, etwa 60 Kilometer westlich der Bezirkshauptstadt Belgorod. Zu den Angriffen bekannte sich die russische Freiwilligenlegion „Freiheit für Russland“ und der russische Freiwilligenkorps RDK – beide kämpfen auf der Seite der Ukraine.

In einem im Internet veröffentlichten Video sagte ein von bewaffneten Männern in Uniformen umgebener Sprecher: „Russland wird frei sein!“ Auf dem Telegram-Kanal der Gruppe hieß es, zwei Dörfer in der Region Belgorod seien angegriffen worden. Russland stuft die Gruppe als „terroristisch“ ein.

Georeferenzierte Bilder vom Montag bestätigten unter anderem Kämpfe in der Ortschaft Kozinka, etwa sechs Kilometer entfernt vom Ortszentrum von Graiworon. Auch einen russischen Radschützenpanzer vom Typ BTR-82A konnte die paramilitärische Gruppe aus einem Grenzstützpunkt entwenden.

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„Die Legion und die RDK haben Kozinka, Oblast Belgorod, vollständig befreit“, schrieb die Legion am Montagmittag auf ihrem Telegramkanal. Die beiden Korps behaupteten zudem, das Dorf Gora-Podol eingenommen zu haben und nun das Dorf Graiworon anzugreifen. „Wir marschieren weiter“, hieß es. Russische Militärblogger berichten von teils schweren Kämpfen in der Region.

Auch am Dienstag gingen die Kämpfe weiter: „Die Säuberung des Territoriums durch das Verteidigungsministerium und andere Sicherheitsstrukturen wird fortgesetzt“, teilte der Belgoroder Gouverneur Wjatscheslaw Gladkow am Dienstag auf Telegram mit. Russland meldete zudem anhaltende Artillerie- und Mörserangriffe in der Grenzregion.

Wo es zu den Kämpfen kam.

© AFP/VALENTIN RAKOVSKY

Am Dienstagnachmittag hieß es aus Moskau, die russische Armee habe die in die Grenzregion Belgorod eingedrungenen Kämpfer zurückgedrängt und „eliminiert“. Die nationalistischen Gruppierungen seien bei einem „Anti-Terror-Einsatz“ mit Luftangriffen und Artilleriefeuer „aufgehalten und zerstört“ worden, erklärte das russische Verteidigungsministerium. Die Angaben konnten zunächst nicht unabhängig überprüft werden.

Die verbliebenen „Nationalisten“ seien „auf das Territorium der Ukraine zurückgedrängt“ worden, wo die „zerstörerischen Schläge“ der russischen Armee bis zur „vollständigen Vernichtung“ der Kämpfer fortgesetzt worden seien, erklärte das Ministerium weiter. Demnach tötete die russische Armee mehr als 70 „ukrainische Terroristen“.

2. Was ist über die Gruppen bekannt?

Die aus russischen Kämpfern bestehende Legion „Freiheit Russlands“ ist Teil des internationalen Freiwilligenkorps innerhalb der ukrainischen Armee. Gegründet wurde sie zu Beginn der russischen Militäroffensive in der Ukraine. Der russische Freiwilligenkorps (RDK) behauptet, Teil der ukrainischen Fremdenlegion zu sein, die ukrainische Regierung hat dies jedoch nie bestätigt.

Gründer des RDK soll der in Moskau geborene und in Köln aufgewachsene Rechtsextremist Dennis Kapustin sein. Bereits im März sollen er und seine Männer für Angriffe in der russischen Grenzregion Brjansk verantwortlich gewesen sein.

Zu den Angriffen in Belgorod schrieb Kapustin auf seinem Telegram-Kanal laut dem „Kölner Stadtanzeiger“: „RDK – RF 2:0“. RF steht dabei wahrscheinlich für Russische Föderation.

Wie der „Spiegel“ 2019 berichtete, unterhielt Kaputsin während seiner Zeit in Deutschland enge Kontakte in die rechte Szene. Zudem gründete er das Neonazi-Modelabel „White Rex“. Auch in der Hooligan-Szene war Kaputsin kein unbekannter.

„Denis Kapustin ist über die letzten Jahre eine zentrale Schlüsselfigur der extrem rechten Hooliganszene in Europa gewesen. Mit seinen Aktivitäten im Kampfsport und seiner Marke ,White Rex’ hat er die Professionalisierung extrem rechter Gewalt stark vorangetrieben“, sagte der Rechtsextremismusforscher Robert Claus damals der „Süddeutschen Zeitung“. Anlass für die Berichterstattung zu dieser Zeit war die Entscheidung der Sicherheitsbehörden Nordrhein-Westfalens, gegen den Neonazi ein Einreiseverbot für den gesamten Schengenraum zu verhängen.

Ob Kaputsin auch diesmal an der Operation beteiligt war, ist bisher nicht bekannt. Hinsichtlich der aktuellen Ereignisse schrieb der Historiker und Osteuropa-Experte Matthäus Wehowski auf Twitter, es sei schwer zu durchschauen, was in Belgorod abgehe. „Aber Vorsicht! Kapustin und seine ‚Legion‘ sind ein unberechenbarer Haufen. Kurzfristig sicher gut für die Ukraine, da Chaos in den Grenzregionen Russlands.“ Langfristig sei die Gruppe jedoch gefährlich, „da es sich um Rechtsextreme und Spinner handelt“.

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3. Inwieweit ist die Ukraine involviert?

Das ukrainische Präsidentenbüro wies die Verantwortung Kiews zurück. „Die Ukraine beobachtet die Ereignisse in der Region Belgorod in Russland mit Interesse und studiert die Situation, aber sie hat nichts damit zu tun“, schrieb Präsidentenberater Mychailo Podoljak auf Twitter.

Auch der wichtigste Verbündete der Ukraine, die USA, wiederholte seine Position, dass er Angriffe auf russisches Staatsgebiet ablehnt. „Wir haben den Ukrainern sehr deutlich gemacht, dass wir keine Angriffe außerhalb der ukrainischen Grenzen ermöglichen oder fördern“, erklärte der Sprecher des US-Außenministeriums, Matthew Miller, am Dienstagabend in Washington.

Es ist ganz klar, dass diese Gruppe dem ukrainischen Militär untergeordnet ist.

András Rácz, Experte für russische Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik 

Allerdings: Videoaufnahmen des vermeintlichen Grenzübertritts zeigen Kämpfer der Legion in gepanzerten Fahrzeugen vom Typ MRAP MaxxPro (Mine-Resistant Ambush Protected) sowie sogenannte Humvees. Beides Fahrzeugtypen stammen aus US-Produktion. Verifizieren lassen sich die Aufnahmen derzeit nicht.

Einem Bericht der „New York Times“ zufolge sollen mindestens drei gepanzerte US-Militärfahrzeuge verwendet worden sein. Zwei der „MRAP“ seien augenscheinlich von russischer Seite beschlagnahmt worden, berichtete die Zeitung nach Auswertung von unter anderem auf Telegram veröffentlichten Fotos und Videos am Dienstag.

Auch András Rácz, Russland-Experte von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), ist der Meinung, dass der Angriff von Kiew aus initiiert wurde. „Es ist bekannt, dass insgesamt einige Tausend russische und tschetschenische Staatsbürger auf der Seite der Ukraine kämpfen“, meint er.

Es sei also relativ einfach möglich, einen rein russischen Trupp zusammenzustellen oder zu beauftragen. „Aber es ist ganz klar, dass diese Gruppe dem ukrainischen Militär untergeordnet ist, dafür spricht auch ihre Ausstattung“, sagt er. Er glaube nicht daran, dass eine solche Gruppe ohne das Wissen Kiews in der Ukraine operieren könnte.

4. Wieso konnten die Legionen die Grenze überhaupt überqueren?

Die Landgrenze zwischen der Ukraine und Russland ist knapp 2000 Kilometer lang. Um sie vollständig und massiv zu sichern, fehlen Russland mittlerweile die Kräfte. Allerdings wurde die Verteidigung in der Region Belgorod im Zuge des russischen Angriffskriegs ausgebaut. Tatsächlich kommt es daher überraschend, dass ein Durchbruch hier möglich war.

„Die russische Aufklärung hat offensichtlich versagt, was durchaus als Überheblichkeit gedeutet werden kann“, sagt Oberst Markus Reisner, Kommandant der Garde des Österreichischen Bundesheeres, dem Tagesspiegel.

Ob der Grenzübertritt tatsächlich derart einfach war, wie in den Kanälen der beiden Legionen suggeriert wird, lässt sich derzeit jedoch nicht sagen.

5. Warum erfolgt der Angriff jetzt?

Nicht nur auf dem Schlachtfeld tobt ein Krieg, auch im und um den Informationsraum rundherum. Wer hier die Oberhand gewinnt, prägt die öffentliche Meinung und damit Wahrnehmung.

„Die Ereignisse, die wir gerade in Belgorod beobachten können, hängen klar mit der beinahe vollständigen Einnahme Bachmuts durch Russland zusammen. Darüber spricht nun niemand mehr, stattdessen konzentriert sich die gesamte Berichterstattung auf die Grenzregion“, sagt Reisner. Den Kampf um den Informationsraum habe die Ukraine in diesem Fall gewonnen, meint er.

Auch DGAP-Experte Rácz deutet den Angriff eher als Teil einer Informationskampagne. „In Russland stellen sie sich gerade nur eine Frage: Wie konnte das passieren?“, beschreibt er die Lage im russischen Informationsraum. Dort würde der staatliche Medienapparat zwar versuchen, die Situation herunterzuspielen, jedoch mit mäßigem Erfolg.

Dass die Geschehnisse in ganz Russland verfolgt werden, zeigte auch die Reaktion von Kreml-Sprecher Dmitri Peskow. Die Angriffe seien „Anlass zu großer Sorge“, da „ukrainische Kämpfer“ ihre „Aktivitäten gegen unser Land“ fortsetzten. Zudem leiteten Moskauer Behörden ein Terrorverfahren ein. Ermittelt werde derzeit wegen Terrorismus, versuchten Mordes sowie versuchter Tötung von Sicherheitsbeamten, der mutwilligen Zerstörung von Eigentum und illegalen Waffen- und Sprengstoffbesitzes, heißt es in der Mitteilung der zuständigen Ermittlungskomitees.

Regionalgouverneur Gladkow zufolge wurden unterdessen die Einwohner von neuen Ortschaften auf der russischen Seite der Grenze zur Ukraine evakuiert. In den betroffenen Gebieten würden „Aufräumarbeiten“ fortgeführt, die Bewohner der Ortschaften seien „verlegt“ worden. Am Dienstagabend wurde der Alarmzustand durch die Behörden wieder aufgehoben.

„Für Russland ist das aus Image-Sicht ein Fiasko“, sagt Rácz dazu.

6. Welche militärstrategischen Implikationen gibt es?

Bisher handelt es sich lediglich um einen kleineren Vorstoß, der womöglich bereits zurückgeschlagen wurde. Doch die große öffentliche Aufmerksamkeit erhöht den Druck auf Moskau, entschieden zu handeln und womöglich auch andere grenznahe Regionen besser abzusichern.

In der Folge könnten Truppen von anderen Standorten abgezogen werden und so die Hauptangriffe der ukrainischen Offensive erleichtern. „Durch diesen stoßtrupp-artigen Angriff soll Russland gezwungen werden, operative Reserven zu verschieben und zu binden“, meint Militärexperte Franz-Stefan Gady im Tagesspiegel. Er bewerte den Angriff in Belgorod als Teil der größeren Offensivstrategie der Ukraine.

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