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Eine ehrenamtliche Lehrerin unterrichtet Kinder in der afghanischen Hauptstadt in Kabul.

© Getty Images/Anadolu Agency/Uncredited

Ist Afghanistan abgeschrieben?: „Jeder versucht nur noch, zu überleben“

Die Taliban inszenieren die erste öffentliche Hinrichtung seit ihrer Machtübernahme. Frauen werden unterdrückt. Drei Experten raten, was der Westen tun kann.

Der Westen ist weiter in der Verantwortung für Afghanistan, auch wenn die regierenden Taliban Menschenrechte verletzen, die erste öffentliche Hinrichtung seit ihrer Rückkehr an die Macht ausführen und Frauenrechte beschneiden oder abschaffen.

Denn fast 97 Prozent der Bevölkerung sind laut UN-Angaben von Armut betroffen, die Wirtschaft ist durch Sanktionen und die Einstellung westlicher Hilfe zusammengebrochen. Fachleute sagen, wie es im Land wirklich aussieht und was der Westen tun sollte.


Wie ist das Leben in Afghanistan?

Samira Sayed Rahman vom IRC lebt in Kabul und analysiert: „Die humanitäre Lage verschlechtert sich wegen der zusammengebrochenen Wirtschaft – eine Folge der internationalen Sanktionen und der Aussetzung der Entwicklungshilfe seit August 2021. Das hat zu einer Verschlechterung des Gesundheits- und Bildungswesens und der wirtschaftlichen Situation für Afghanen, insbesondere für Frauen, geführt. Menschen haben kein Geld, um sich Essen zu kaufen, sie haben ihre Arbeit verloren oder kommen nicht an Bargeld.“

Hila Limar leistet entwicklungspolitische Arbeit in Afghanistan: „Mit der Machtübernahme der Taliban brachen die internationalen Beziehungen weg, das Ausland war bis dahin in allen Sektoren des Landes involviert gewesen. Über 80 Prozent des Staatshaushaltes machten internationale Gelder aus! Das abrupte Ende dieser Beziehungen stürzte das Land in eine wirtschaftliche und humanitäre Katastrophe. Teilweise sind Menschen gezwungen, ihre Organe oder gar die eigenen Kinder zu verkaufen, um die Familie zu versorgen.“

Ein afghanischer Mann, der seine Niere verkauft hat, um seine Familie vor dem Hungertod zu bewahren, zeigt seine Operationsnarben.

© AFP/Wakil Kohsar

Hans-Joachim Gießmann berät im Bundestag zur Afghanistanpolitik: „Die Taliban bleiben das Sicherheitsversprechen schuldig, wie die Zunahme von Anschlägen auf Schulen und Moscheen zeigen. Innerhalb der Taliban-Bewegung scheinen zudem seit einigen Monaten jene Kräfte schrittweise die Oberhand zu gewinnen, die den Rückbau Afghanistans in das Zeitalter der ersten Taliban-Herrschaft zwischen 1996 und 2001 anstreben, inklusive öffentlich praktizierter Strafen bei Verstößen.“


Wie ist die Lage der Frauen?

Rahman: „Im Ausland denkt man, dass alle afghanischen Frauen zu Hause eingesperrt sind. Aber Tausende Frauen arbeiten in Ministerien, führen Unternehmen und Organisationen. Sicher gibt es Vorschriften, um das Leben von Frauen in der Öffentlichkeit einzuschränken. Wir tun aber denen Unrecht, die weiterhin ausgehen und arbeiten, trotz aller Einschränkungen. Wir hören zu wenig die Stimmen afghanischer Frauen.“

Limar: „Die Einhaltung der Auflagen wird nicht in allen Provinzen gleichermaßen eingefordert: Wir sind beispielsweise an einer Schule in Mazar-e-Scharif tätig, an der Mädchen bis zur Oberstufe weiter den Unterricht besuchen. Aber die Verbote sorgen für enorme Verunsicherung bei den Frauen. Ihre Rechte scheinen nicht sicher und können willkürlich entzogen und beschnitten werden.“

Gießmann: „Die Folgen sind insbesondere für Mädchen und Frauen prekär, angefangen beim Ausschluss von Bildung bis hin zur stark eingeschränkten Teilhabe am öffentlichen Leben. Frauen aus ideologischen Gründen von Bildung und Berufstätigkeit fernzuhalten, ist für die Zukunft des Landes schädlich und verringert zudem die Aussichten der Taliban auf die erhoffte internationale Anerkennung.“


Gibt es noch Freiheit und Proteste im Land?

Rahman: „Es ist Protest, wenn Frauen täglich ihrem normalen Leben nachgehen.“

 Es ist Protest, wenn Frauen täglich ihrem normalen Leben nachgehen.

Sayed Rahman

Limar: „Zwischen Städten und ländlichen Regionen herrscht ein gesellschaftliches Gefälle. Auf dem Land hat sich zum Teil seit August 2021 wenig verändert: Frauen gehen wenigen Berufen nach, Schulbildung für Mädchen ist nicht selbstverständlich. Anders in den Städten.

Menschen, deren Lebensweise gegen die Werte der Taliban verstößt, müssen nicht nur um ihre Freiheit kämpfen, sondern um ihr Leben fürchten. Das können Frauen in politischen Ämtern sein, Aktivist:innen, LGBTQ-Individuen, Journalist:innen, Ortskräfte der Nato-Truppen oder internationaler Organisationen. Es gibt Proteste von Frauen, aber den Demonstrantinnen drohen Schläge, Inhaftierungen, Folter und Entführungen.“

Die grassierende Armut in Afghanistan trifft alle, besonders aber die Frauen.

© AFP/Daniel Leal

Gießmann: „In Regionen, in denen man in den vergangenen Jahren unter Warlords, Korruption, Krieg und Armut gelitten hatte, ist das Sicherheitsversprechen der Taliban möglicherweise als Zugewinn von Freiheit verstanden worden. Allerdings sollten wir besser verstehen, welche Interessen nach 40 Jahren Gewalterfahrung und angesichts grassierender Armut für die meisten Bewohner Afghanistans vorherrschend sind.“


Wie kann der Westen überhaupt noch helfen?

Rahman: „Die internationale Gemeinschaft braucht einen Plan für die afghanische Wirtschaft. Eingefrorene Gelder müssen kontrolliert freigegeben werden. Im vergangenen Jahr haben Ausnahmeregelungen den Geldfluss ermöglicht, und die internationale Gemeinschaft hat humanitäre Hilfe geleistet, die im Winter eine Hungersnot verhindert hat.

Das reicht aber nicht aus. Es braucht ein neues Modell der Entwicklungshilfe, die im August 2021 ausgesetzt wurde. Darin müssen Überwachungsmechanismen durch Dritte eingebaut sein, um die Freigabe von Geldern zu gewährleisten. Auch braucht die afghanische Zentralbank technische Hilfe.“

97
Prozent der afghanischen Bevölkerung sind laut UN-Schätzungen von Armut betroffen.

Gießmann: „Soll Afghanistan nicht dauerhaft am Tropf hängen, wird über strukturelle wirtschaftliche Unterstützung nachgedacht werden müssen. Will man dabei nicht die Taliban legitimieren, ist das eine politische Gratwanderung. Nötig sind zielgerichtete Förderung und strikte Kontrolle der Ressourcenzuflüsse.

Ein Festhalten an wirtschaftlichen Sanktionen liefert den Taliban Argumente, die Misere dem Westen anzulasten und so ihre Legitimation zu erhalten.“

In Afghanistan herrscht ein gesellschaftliches Gefälle zwischen ländlichen und urbanen Regionen.

© AFP/Uncredited


Lässt sich mit den Taliban verhandeln?

Rahman: „Kommunikation mit den Behörden ist notwendig, damit wir unsere Arbeit fortsetzen können. Wir fordern internationale Akteure auf, vor Ort präsent zu sein. Bei allen Kontakten, die wir mit den afghanischen Behörden haben, ist es wichtig, dass Frauen mit am Tisch sitzen, damit über Frauenfragen gesprochen wird.“

Gießmann: „Das ist nicht einfach, aber möglich und notwendig. Allerdings gibt es nicht die Taliban. Ein Teil von ihnen hat sich von der Außenwelt isoliert und gibt die ideologischen Leitlinien vor. Sie beeinflussen das Regierungshandeln, weil sie die Flexibilität der Verhandler einschränken und so Lösungen torpedieren.

Jedes Verhandlungsergebnis mit internationalen Partnern bedarf des klerikalen Segens. Es ließe sich mit den Taliban aber auch verlässlicher verhandeln, wenn es diplomatische Vertretungen vor Ort gäbe. Hierzu hat die internationale Gemeinschaft noch keine einheitliche Haltung.“

Die Taliban bleiben das Sicherheitsversprechen schuldig.

Hans-Joachim Gießmann

Limar: „Ich bin hier in der Beobachterrolle. Im Tagesgeschäft von Visions for Children erleben unsere lokalen Kolleg:innen aber, dass in einigen Provinzen die Zusammenarbeit mit Behörden im Bildungssektor funktioniert. Bisher kamen von Talibanseite keine Einwände zur Weiterführung unserer Projekte. Trotzdem bleiben natürlich Sorge und Ungewissheit, weil sich das willkürlich ändern kann.“

Grundrechte von Frauen werden in Afghanistan beschnitten.

© AFP/Uncredited


Können die Proteste im Iran einen Einfluss haben auf die Lage der Frauen in Afghanistan?

Rahman: „Afghanistan hat momentan eigene Probleme. Hier sehen Sie kaum Proteste, weil jeder nur noch versucht, zu überleben. Bevor wir über irgendetwas anderes in Afghanistan sprechen, sollten wir darüber sprechen, wie die Menschen über die Runden kommen.“

Gießmann: „Der zivile Widerstand im Iran hat eine lange Tradition, das auslösende Moment fiel auf fruchtbaren Boden. Das sehe ich in Afghanistan nicht. Trotz aller Kritik an der Art und Weise ihres Regierens sollte im Westen nicht unterschätzt werden, dass eine Rückkehr zur in den Augen vieler Afghaninnen und Afghanen diskreditierten Islamischen Republik kaum Unterstützung besitzt und es an mehrheitsfähigen politischen Alternativen vorläufig mangelt.“

Limar: „In den letzten Wochen kam es auch in Kabul zu Demonstrationen vor der iranischen Botschaft, die Frauen trugen Plakate mit den Worten „Women, Life, Freedom“ und zeigten ihre Solidarität mit den Protesten im Iran. Aber wie die meisten Proteste wurden auch diese gewaltsam durch die Taliban aufgelöst. Ich hoffe aber, dass die Protestbewegung auch in Deutschland zeigt, welcher Effekt durch globale Solidarität erreicht werden kann.

Sich an die Seite mutiger Demonstrant:innen und Aktivist:innen im Iran zu stellen, ihnen zuzuhören und ihre Forderungen ernst zu nehmen, wäre auch ein so wichtiges Zeichen für Frauen in Afghanistan, die trotz aller Widrigkeiten für ein freies Land und eine selbstbestimmte Zukunft kämpfen.“

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