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Indiens Premierminister Narendra Modi vor dem neu eröffneten Ram-Tempel, der auf einer von hinduistischen Extremisten zerstörten Moschee errichtet worden ist.

© dpa/Rajesh Kumar Singh/Bearbeitung Tagesspiegel

Hindu-Tempel auf zerstörter Moschee errichtet: Wird Premierminister Modi zur Gefahr für Indiens Demokratie?

Einst die größte Demokratie der Welt, entwickelt sich Indien unter dem Hindu-nationalistischen Premierminister Narendra Modi derzeit in eine andere Richtung. Drei Experten schätzen die Lage ein.

Von
  • Sushant Singh
  • Seema Chishti
  • Joachim Betz

Eigentlich galt Indien als größte Demokratie der Welt – doch seitdem der hindunationalistische Politiker Narendra Modi das Land als Premierminister regiert, steuert das Land in eine andere Richtung. Muslime werden verfolgt, Hindus begünstigt – zuletzt sorgte der Bau eines neuen Tempels für große Empörung. Der neue „Vatikan“ des Hinduismus wurde auf einer alten Moschee errichtet, die hinduistische Extremisten zerstört hatten. Modi reiste eigens für die Eröffnung an, was nur ein letztes Beispiel für seinen Führungsstil ist.

Stellt Modi eine Gefahr für Indiens Demokratie dar? Drei Experten, drei Meinungen. Alle Folgen unserer Serie „3 auf 1“ finden Sie hier.


Die Wahlen sind frei, aber nicht mehr fair

Auch wenn Narendra Modi behauptet, Indien sei die Mutter der Demokratie, wurde das Land erst 1950 mit der Verabschiedung einer Verfassung, die allen Bürgern unabhängig von Religion, Rasse, Hautfarbe, Geschlecht oder Kaste gleiche Rechte einräumte, wirklich demokratisch.

Die Demokratie wurde im Laufe der Zeit in einer postkolonialen, armen Gesellschaft aufgebaut, hat sich aber seit 2014, als Modi Premierminister wurde, zurückentwickelt. Die Wahlen sind nach wie vor frei, aber sie sind nicht mehr fair. Ein neues Gesetz hat 75 Prozent der privaten Finanzierung zugunsten seiner Partei ermöglicht, während die Wahlkommission, die Medien und die Justiz parteiisch agierten.

Die ungleichen Ausgangsbedingungen werden durch die Anwendung neuer Sicherheits- und Korruptionsbekämpfungsgesetze durch die staatlichen Behörden gegen Oppositionspolitiker noch weiter verzerrt. Neben sauberen Wahlen sind auch die beiden anderen demokratischen Bezugspunkte – Vereinigungsfreiheit und freie Meinungsäußerung – deutlich zurückgegangen. Religiöse Minderheiten wie Muslime und Christen werden von der Regierungspartei angegriffen, die de facto einen hindunationalistischen Staat schafft, in dem ein populistischer und autoritärer Herrscher durch Wahlen zum Kaiser gekrönt wird.


Die Totenglocke für Indiens Demokratie läutet immer lauter

Es gibt vier Gründe, die dafürsprechen. Der erste ist die Zerstörung der Prämisse, dass alle Inder gleich sind. Die Förderung des Ethnonationalismus und der Einsatz des Staates für den Bau des neuen Ram-Tempels auf einer zerstörten Moschee macht Indien zu einem Land, in dem Hindus im Vordergrund stehen. Damit nähert sich Indien den gescheiterten europäischen Nationalismen der 1930er Jahre an. Mehrheitswahlrecht macht noch keine Demokratie aus. In der Demokratie geht es darum, die Gleichheit aller Bürger zu gewährleisten – und dieses Recht wird bewusst verletzt.

Der zweite Grund ist die Unterordnung aller für eine funktionierende Demokratie wichtigen Institutionen – wie Parlament, Justiz und Medien – unter die Exekutive. Ist Demokratie möglich, wenn diese Institutionen die Rechenschaftspflicht der Exekutive nicht durchsetzen können?

Drittens wird versucht, die Vorstellung von Bürgern mit Rechten durch die Vorstellung von Menschen als Untertanen zu ersetzen. Wenn es keine Bürger mehr gibt, wird es bald auch keine Demokratie mehr geben. Der vierte Grund ist die Abschaffung einer transparenten Wahlkampffinanzierung, bei der die Identität der Spender für die politischen Parteien ein Geheimnis ist. Jeder dieser Punkte ist eine Katastrophe – zusammen sind sie die Totenglocke für das demokratische System.


Die demokratische Qualität Indiens ist im Sinkflug

Die indische Regierung hat das eigene Land stets als die größte Demokratie der Welt gerühmt und tut das immer noch. Dieses Selbstlob war angesichts der sozialen Diskriminierung im Lande auf der Basis der Kasten- und Religionszugehörigkeit schon immer etwas problematisch, ist mittlerweile auch in politischer Hinsicht nicht mehr haltbar. Indien reiht sich ein in die Riege jener Staaten, deren demokratischer Qualität seit fast zehn Jahren in internationalen Rankings ein beständiger Sinkflug bescheinigt wird.

Das Land wird etwa von Freedom House nur noch als teilweise frei eingestuft, von anderer Seite als bloße elektorale, aber nicht liberale Demokratie. Das hat weniger mit den immer noch fairen und freien Wahlen zu tun – trotz Selbstbegünstigung der regierenden Hindu-Nationalisten bei Wahlspenden.

Wohl aber hängt es mit den staatlicherseits ungehinderten oder gar begünstigten Angriffen auf die religiösen Minderheiten, massiven Einschränkungen der Aktionsfreiheit zivilgesellschaftlicher Organisationen, der weit fortgeschrittenen Unterdrückung der Presse- und der akademischen Freiheiten zusammen. Hinzu kommen Aktionen, welche die Basis der Demokratie selbst zu untergraben drohen, wie die Ausbürgerung von Muslimen, Kolonisierung der Justiz, die Aufhebung der Autonomie von Jammu und Kashmir.

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