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Rauch über Gaza nach israelischem Vergeltungsschlag.

© REUTERS/MOHAMMED SALEM

Strom, Wasser und Äcker fehlen: Gazas Zivilgesellschaft lebt, doch kaum jemand hört sie

Seit 2007 regiert die Hamas im Gazastreifen mit Unterdrückung und Gewalt. Die Drohungen, die Israel jetzt wiederholt, werden die Lage nur noch gefährlicher machen.

Ein Gastbeitrag von René Wildangel

Seit 2007 wird der Gazastreifen durch die Hamas beherrscht. Ursprung war der Wahlsieg der Islamisten bei den palästinensischen Parlamentswahlen 2006, der von der internationalen Gemeinschaft nicht akzeptiert wurde. Zwei Jahre zuvor hatte Premier Ariel Sharon israelische Siedler und Soldaten aus Gaza abgezogen, aber die Kontrolle zu Land, Wasser und in der Luft aufrechterhalten.

Deshalb gilt Gaza völkerrechtlich weiterhin als besetzt. Nach dem Bürgerkrieg zwischen den verfeindeten palästinensischen Parteien Hamas und Fatah und der alleinigen Machtübernahme der Hamas in Gaza begann Israel vor über 15 Jahren eine weitgehende Blockade des Gebiets.

Gaza war vorher keine unumstrittene Hochburg der Hamas. Doch nach der Machtübernahme mussten Hunderttausende Angestellte der von Palästinenser-Präsident Abbas Fatah dominierten Palästinensischen Autonomiebehörde zu Hause bleiben, die Hamas übernahm Verwaltung, Polizei und Gerichtswesen. Seither regiert sie den kleinen Küstenstreifen autoritär und im Sinne ihrer militanten islamistischen Ideologie.

Ein Stück Erde, wo es keinen sicheren Ort gibt

„Verlasst Gaza“ sagte Netanjahu der Bevölkerung nun und kündigte zugleich massive Luftangriffe gegen die Hamas an. Was er damit meinte, bleibt unklar, schließlich ist seit Beginn der Blockade 2007 nicht nur die israelische, sondern auch die ägyptische Grenze weitgehend abgeriegelt. Der Gazastreifen gehört zu den am dichtesten besiedelten Orten der Welt – auf einer Fläche, die kleiner ist als das Stadtgebiet von Köln, leben 2,3 Millionen Menschen.

Es gibt in Gaza keinen sicheren Ort. Bei israelischen Angriffen wurden auch Krankenhäuser, Schulen und Wohnhäuser bombardiert, trotz israelischer Zusicherung, keine zivilen Ziele anzugreifen. Die Vereinten Nationen sprechen von bisher über 120.000 intern Vertriebenen. Ein Teil davon nutzt ausgewählte Schulen des UN-Palästina-Hilfswerks UNRWA als Zufluchtsort, aber der Weg dorthin und der Aufenthalt sind inmitten der Bombardierungen gefährlich. Andere Schutzräume oder Fluchtmöglichkeiten gibt es für die Bevölkerung nicht.

Jugend ohne Perspektive, Strom, Wasser und Äcker fehlen

Und diese Bevölkerung von Gaza ist überwiegend jung, 50 Prozent der Menschen sind jünger als 18 Jahre. Der Anteil an Kindern unter 15 Jahren ist hoch. Sie sind besonders schwer von den wiederkehrenden Angriffen traumatisiert. Ein 16-Jähriger in Gaza hat nichts anderes erlebt als die Hamas-Herrschaft und wiederkehrende Kriege: 2008, 2012, 2014, 2018 und 2021 kam es zu brutalen Kriegen mit über 4000 getöteten Palästinensern aus Gaza.

Auf israelischer Seite kamen unter anderem durch Raketenangriffe 100 Menschen ums Leben, eine Zahl, die durch die brutalen Hamas-Angriffe seit Samstag um ein Vielfaches überschritten wurde. Die Blockade verhindert jede normale wirtschaftliche Betätigung, die Jugendarbeitslosigkeit ist mit über 70 Prozent enorm hoch. Über 80 Prozent der Menschen sind auf Lebensmittelhilfen angewiesen.

50
Prozent der Menschen im Gazastreifen sind Kinder und Jugendliche.

Bereits 2012 veröffentlichten die Vereinten Nationen einen Bericht, der davon ausging, dass es eine grundsätzliche Änderung des Status quo brauche, andernfalls werde die Bevölkerung keine Lebensgrundlagen mehr haben. Elektrizität ist nach wiederholtem Beschuss des einzigen Elektrizitätswerkes ebenso Mangelware wie sauberes Trinkwasser, die Böden der einst produktiven Landwirtschaft sind durch Überdüngung, Munition und Abwasser vergiftet.

Gazas Zivilgesellschaft lebt, doch kaum jemand hört sie

Wie groß die Unterstützung für die Hamas ist, ist grundsätzlich schwer zu beziffern. Obwohl sie den kleinen Gazastreifen gewaltsam kontrolliert und kaum Kritik duldet, existiert eine enorm breite Zivilgesellschaft. Trotz brutaler Niederschlagung kam es zuletzt im Sommer zu groß angelegten Protesten gegen die Hamas. Die großen, auch aus Deutschland geförderten Menschenrechtsorganisationen wie Al-Mizan oder PCHR, dokumentierten in der Vergangenheit nicht nur die Folgen der israelischen Blockade und der wiederholten Angriffe gegen den Gazastreifen, sondern mit viel Mut auch die Menschenrechtsverletzungen der Hamas.

Verletzte in Gaza: Wie groß die Unterstützung für die Hamas ist, ist grundsätzlich schwer zu beziffern. 

© REUTERS/stringer

Andere Organisationen versuchen unter schwersten Bedingungen Frauenrechte, Kultur und Sportgelegenheiten zu erhalten. Der Hamas ist das zuwider – sie platzierte zumeist erfolgreich ihre Propaganda eines kollektiven bewaffneten „Widerstandes“. Bilder von den Hunderttausenden  junger Menschen, die gegen alle Widerstände ihre Ausbildung beginnen, einen Surfclub am Strand betreiben oder für den Klimaschutz demonstrieren, gehen dagegen selten um die Welt.

Nicht Bomben, sondern Chancen für die Bevölkerung schaffen Sicherheit

Jetzt ist mit langer Dauer der Gewalt zu rechnen. Netanjahu hat – nicht zum ersten Mal – angekündigt, die Hamas und ihre Machtstrukturen zu vernichten. Wie bisher wird er dieses Ziel aber auch durch umfassende Luftschläge nicht erreichen. Stattdessen ist wieder mit enorm vielen zivilen Opfern ist zu rechnen. Eine Bodenoffensive und Wiederbesetzung des Gazastreifens wäre riskant und ist in Israel umstritten.

Die Blockadepolitik mit ihrem erklärten Ziel, die Hamas zu schwächen, ist jedenfalls komplett gescheitert. Zuletzt erklärte Verteidigungsminister Gallant den Gazastreifen völlig abzuriegeln – „kein Strom, keine Nahrung, kein Wasser, kein Benzin“, da Israel gegen „menschliche Tiere“ kämpfe. Das wäre gemäß Völkerrecht eine Kollektivstrafe. Wie in der Vergangenheit: Während die Hamas unter der Blockade militärisch und operativ offensichtlich stärker wurde, waren die Menschen der zivilen Bevölkerung die Leidtragenden.

Mehr Erfolg verspräche eine andere Strategie: Einen zivilen Waren- und Personenverkehr könnte man an den regulären Grenzübergänge für Israel – unter Umständen mit internationaler Unterstützung - sicher gewährleisten und so neue Perspektiven schaffen. Ohne sie bleibt der Gazastreifen nicht nur ein Gefängnis für seine verzweifelten Bewohner, sondern auch ein extremes Sicherheitsrisiko für Israel. Er könnte sogar zum Betätigungsfeld werden für noch destruktivere Kräfte als die Hamas.

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