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© Tagesspiegel / European Focus

European Focus #15: Let it snow!

+++ Estnische Identitätskrise +++ Die High Society merkt’s jetzt auch +++ Schneemangel und Klimakrise +++ Das muss schön gewesen sein +++ Wintersport ohne Schnee +++

Hallo aus Rom, 

leben wir in einer Dystopie? In den Bergen Europas herrscht Schneemangel, Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni führt einen erbitterten Kampf gegen Klimaaktivisten. Der Gouverneur der Region Emilia-Romagna (und aussichtsreicher Kandidat für den Parteivorsitz der sozialdemokratischen Partito Democratico) Stefano Bonaccini verspricht indes, er werde den Schneemangel im Apennin beheben, indem mit High-Tech-Kanonen noch mehr Kunstschnee auf die Berge geschossen wird.

Die Politik flüchtet sich in die Vergangenheit und leugnet die Klima-Herausforderung. Oder sie wünscht sich in eine fiktive Zukunft. Was fehlt, sind Maßnahmen im Hier und Jetzt. Der Klimawandel nimmt inzwischen solch beängstigende Formen an, dass viele Europäerinnen und Europäer bereits mit Nostalgie an Schnee denken. 

Unser Kollege aus Estland berichtet, wie schneefreie Winter nicht nur seinen eigenen Alltag verändern, sondern in gewisser Weise sogar die nationale Identität. Der Klimawandel hat Effekte auf den Winter in ganz Europa. Je mehr wir über diese Auswirkungen lesen und hören, desto mehr verwundert es mich, dass viele Politikerinnen und Politiker das Thema nach wie vor vernachlässigen oder gar leugnen. Der Schneemangel ist ein deutliches Symbol für unsere Untätigkeit.

Francesca De Benedetti, dieswöchige Chefredakteurin

Estnische Identitätskrise 

Laut einem alten Sprichwort braucht es drei Dinge, um ein echter Este zu sein: Man muss ein Haus bauen, einen Baum pflanzen – und einmal den Skilanglauf-Marathon von Tartu bewältigt haben.

Ich selbst werde vermutlich niemals ein Haus bauen; einige Bäume habe ich immerhin gepflanzt. Als „mehrfach erledigt“ abhaken kann ich den traditionsreichen 63 Kilometer langen Langlauf vor den Toren der südestnischen Stadt Tartu.

Die Anspannung und Aufregung steigt jedes Jahr im Spätherbst, wenn die Tage hier düster, dunkel und nass sind. Dann wird der Blick auf die 10-Tages-Wettervorhersage zu einer Art Sucht. Wird die Temperatur unter Null fallen? Gibt es Anzeichen für Schnee? Ein paar Grad in die eine oder andere Richtung können den Unterschied zwischen der wohl hässlichsten und deprimierendsten Zeit des Jahres und ihrem Gegenteil ausmachen – einem schneereichen, schönen Winter.

Das Wetter wird aber unbeständiger. Kalte Temperaturen und Schnee verwandeln sich abrupt zu warmem Regen. So werden Skipisten und Loipen innerhalb weniger Tage unbefahrbar. Dadurch ist es auch immer schwieriger, den Wintersport wirklich zu genießen. Ich betrachte inzwischen jeden schneereichen Winter und jedes schneereiche Wochenende als das potenziell letzte. Vor ein paar Wochen habe ich mich regelrecht gezwungen, eine 19-Kilometer-Runde zu laufen, obwohl ich unter einer üblen Erkältung litt. Der Grund dafür: In der Vorhersage hieß es (richtigerweise), am kommenden Wochenende werde es keinen Schnee mehr geben.

Ich bin Fan eines aussterbenden Sports. Die Zahl der Menschen, die sich für den Langlauf von Tartu anmelden, ist rückläufig. Das ist wenig verwunderlich. Schließlich kann man sich nicht sicher sein, ob der Winter es erlaubt, sich auf dieses harte Rennen vorzubereiten – oder ob das Rennen an sich stattfinden wird.

Skilanglauf gilt seit vielen Jahrzehnten als Teil der nationalen Identität Estlands. Es ist etwas, das es uns ermöglicht, uns „nordisch“ zu fühlen. Nordisch zu sein ist etwas, wonach sich die Nation auch in Bezug auf die Lebensqualität sehnt. Bald werden wir wohl neue Kriterien dafür aufstellen müssen, was einen Menschen zu einem „echten Esten“ macht.

Holger Roonemaa ist Leiter des Investigativ-Teams bei Delfi aus Tallinn.

Die High Society merkt’s jetzt auch

Bei Themen wie dem Klimawandel kommt Satire manchmal sehr nah an die Realität. In einem Artikel der spanischen Satire-Website El Mundo Today hieß es kürzlich: „Die Oberklasse hat den Klimawandel entdeckt und sorgt sich: Es gibt keinen Schnee in Baqueira.“

Skifahren und andere Wintersportarten sind im größtenteils sonnigen und warmen Spanien nicht sonderlich beliebt. Skigebiete wie Baqueira in Katalonien gelten daher als exklusives Urlaubsziel, das sicherlich nicht für jeden Geldbeutel geeignet ist.

Weniger lustig und angenehm sind indes die weiterführenden Auswirkungen des Klimawandels: In Spanien ist der Schneemangel von heute gleichbedeutend mit dem Wassermangel von morgen. Die Stauseen in Katalonien sind aktuell zu nur 31 Prozent ihrer Gesamtkapazität gefüllt. Die Katalanische Wasserbehörde ACA nennt dies „beunruhigend“.

Alicia Alamillos ist Journalistin mit Fokus auf internationale Nachrichten bei El Confidencial aus Madrid.

Schneemangel und Klimakrise

Kleine Inseln aus Kunstschnee, umgeben von grünem Gras – das perfekte Sinnbild für die jüngste Wärmewelle in Europa kam kürzlich vom Ski-Weltcup im schweizerischen Adelboden. Klimakrise bedeutet Schneekrise: hier zeigt sich der Klimawandel besonders eindrücklich. Begegnet wird dieser Krise mit den bisher gängigen Alltagslösungen. Kunstschnee wird mit Kanonen abgefeuert und mit LKW sowie Helikoptern auf die Pisten geliefert.

Das Problem dabei ist, dass dies Maßnahmen für eine Welt gemacht sind, die 1,2 Grad wärmer sein wird. Doch niemand kann uns erklären, wie sich die Berggemeinden an eine 2,8 Grad wärmere Welt anpassen sollen, in die uns die derzeitige globale Energiepolitik treibt. Mit diesen Erderwärmungsaussichten ist die künstliche Beschneiung ein sehr teurer Spaß und illusorisch. Eine durchschnittliche Skipiste benötigt bereits jetzt 20.000 Kubikmeter Wasser, um befahrbar zu werden.

Die einzige Möglichkeit, die Berg-Gemeinden und die dortigen Ökosysteme zu retten, ist der Ausstieg aus fossilen Energieträgern. Danach sieht es aber nach wie vor nicht aus. Die Vereinigten Arabischen Emirate haben Sultan Al Jaber, den CEO der Abu Dhabi National Oil Company, als Vorsitzenden der nächsten UN-Klimakonferenz COP28 nominiert. Der Manager eines Öl-Konzerns aus einer Petro-Supermacht soll also die Verhandlungen über den Ausstieg aus Öl, Kohle und Gas leiten.

Schon die Ergebnisse der COP27 waren nichts als ein Triumph des Status Quo im Energiebereich; es wurden keine neuen Verpflichtungen zur Emissionsminderung vereinbart. Angesichts des Führungspersonals beim nächsten Gipfel fällt es schwer, sich Hoffnungen auf bessere Resultate zu machen.

Wir sollten uns vom potenziell frostigen Wetter in den kommenden Tagen und Wochen nicht täuschen lassen. Wir verlieren in der Klimakrise immer mehr an Boden. Kunstschnee kann uns etwas Zeit verschaffen, aber dies ist eine große Krise, die große Reaktionen erfordert – und zwar eine schnelle Reduzierung der CO2-Emissionen. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht.

Ferdinando Cotugno ist freiberuflicher Journalist aus Mailand. Er schreibt über Klimathemen.

Das muss schön gewesen sein

„War der Gletscher weiß? Und wie war es, auf Schnee Ski zu fahren?“, fragt ein Kind aus der Zukunft im Tweet von Anne-Sophie Barthet, einem Mitglied der französischen Ski-Nationalmannschaften. Als die Spitzensportlerin ihre traurigen Gedanken im Jahr 2018 auf Twitter teilte, trainierte sie gerade auf dem Gletscher von Tignes in einer Höhe von 3.100 Metern. Sie wollte auf die Schäden des Klimawandels in den Bergen aufmerksam machen.

Nur fünf Jahre später ist ihr Horror-Szenario bereits Realität. Die milden Temperaturen und der Schneemangel in den französischen Alpen beeinträchtigen die Ausrichtung mehrerer Wettbewerbe und Sportveranstaltungen. Die Station Tignes sah sich in diesem Januar bereits gezwungen, die Andros Trophy, ein Autorennen auf Eis, abzusagen. In der Skiregion Contamines, nahe der Schweizer Grenze, wurde der Telemark-Weltcup auf Februar verschoben.

Angesichts der warmen Wetterbedingungen wächst nun auch der Aktivismus unter Profi-Wintersportlern. So soll beispielsweise im Rahmen der Kampagne Athletes in Action auf Maßnahmen gegen den Klimawandel aufmerksam gemacht werden. 

Léa Masseguin ist Journalistin in der Auslandsredaktion der französischen Zeitung Libération aus Paris.

Wintersport ohne Schnee

434 Medaillen bei Olympischen Winterspielen; rund 14 Millionen Menschen pro Jahr auf den Skihängen des Landes: Deutschland ist eine Wintersport-Nation.

Es ist keine Überraschung, dass sich die Begeisterung für Skifahren und Snowboarden zu einer Milliardenindustrie entwickelt hat. 2,3 Prozent des jährlichen deutschen BIP stammen aus dem Sport und den damit verbundenen Konsumausgaben. Der Wintersport macht ein Fünftel dieser Einnahmen aus (etwa 15 Milliarden Euro), wobei er jedoch nur ein Fünfzigstel der Ausgaben für die Sportinfrastruktur im Land benötigt.

Angesichts solch solider Gewinnmargen tätigen etwa 400 Gemeinden in Süddeutschland beträchtliche Investitionen in tadellose Skipisten. Für Wintersport-Tourismus braucht es jedoch vor allem eins: Schnee. Und der fällt immer weniger.

In Bayern finden sich acht der zehn größten Skigebiete Deutschlands. Dem Bundesland macht der Klimawandel zu schaffen; die durchschnittliche Jahrestemperatur in den bayerischen Alpen ist in den vergangenen 60 Jahren um 1,5 Grad gestiegen.

Dadurch steigt auch der Bedarf an energieintensiven Schneekanonen. Für einen Hektar künstlich beschneiter Skipisten werden bis zu drei Millionen Liter (oder 20.000 Badewannen) Wasser benötigt – und Deutschland hat nicht weniger als 93.000 Hektar Pisten zu pflegen. Selbst wenn alle Kanonen im Einsatz sind, läuft rund die Hälfte der bayerischen Skigebiete Gefahr, innerhalb der kommenden 20 Jahre den Betrieb einstellen zu müssen.

Trotz dieser existenziellen Bedrohung und eines immer größer werdenden ökologischen Fußabdrucks bleibt der Wintersport in Deutschland momentan noch ein lukratives Geschäft. Lukrativ genug jedenfalls, um beispielsweise einen Biathlon-Weltcup im bayerischen Ruhpolding auszurichten, obwohl kein Schnee und die Temperaturen deutlich über dem Gefrierpunkt lagen. Angesichts der Klima- und Energiekrise droht der Preis, den man für eine weiße Landschaft zahlen muss, zukünftig untragbar hoch zu werden.

Alexander Kloss ist Journalist beim Tagesspiegel. Er hat sich auf die Schnittstelle von Politik, Kultur und Wirtschaft spezialisiert.

Danke, dass Sie die 15. Ausgabe von European Focus gelesen haben. 

Umweltaktivisten mögen Skulpturen, Gemälde und Institutionen wie den italienischen Senat mit Farbe bewerfen, aber es gibt wohl kein eindrücklicheres Symbolbild als die schmelzenden Schneestreifen, die sich in schmalen Bahnen die europäischen Berge hinab schlängeln.

Wie sehen Sie das Thema, was sind Ihre Gedanken zur Klimakrise? Schreiben Sie uns gerne unter info@europeanfocus.eu

Bis nächste Woche! 

Francesca De Benedetti

Der Newsletter European Focus wird von der Europäischen Union finanziert. Die geäußerten Ansichten und Meinungen sind ausschließlich diejenigen der Autor:innen und spiegeln nicht notwendigerweise die der Europäischen Union oder von „Creative Europe“ wider. Weder die EU noch die ausstellende Behörde können für sie zur Verantwortung gezogen werden.

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