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Migranten in El Paso/Texas.

© AFP/Getty Images/John Moore

„Für eine Weile wird es chaotisch“: Joe Bidens Dilemma an der Grenze

Donnerstag um Mitternacht läuft in den USA eine restriktive Regelung für Asylsuchende aus. Die Behörden rechnen mit einem großen Andrang – und Republikaner warnen vor einer „Invasion“.

Die Bilder sind schon jetzt dramatisch. In den Städten an der amerikanischen Südgrenze warten Zehntausende darauf, dass sich ihr Schicksal ändert. Männer, Frauen, Kinder. Sie warten darauf, dass an diesem Donnerstag um Mitternacht der sogenannte „Title 42“ ausläuft.

Die Regelung der US-Gesundheitsbehörde CDC wurde unter dem damaligen Präsidenten Donald Trump im März 2020 aktiviert und ermöglicht es der US-Regierung seitdem, die meisten illegal über Mexiko ins Land gelangten Migranten unter Verweis auf die Corona-Pandemie rasch wieder abzuschieben. Mehr als 2,8 Millionen Mal wurde Title 42 angewandt.

Dass Title 42 ausläuft, war klar. Die CDC hatte dies im August 2021 für den Zeitpunkt festgelegt, wenn der Notfall im Bereich der öffentlichen Gesundheit endet. Das ist nun der Fall. Unklar ist, wie es weitergeht.

„Die ehrliche Antwort auf diese Frage lautet: Keiner weiß es“, sagt Muzaffar Chishti, Senior Fellow des unabhängigen Migration Policy Institute. Man könne viel spekulieren, aber wenig mit absoluter Sicherheit vorhersagen. „Zu viele Dinge sind im Fluss“, sagt Chishti.

Diese Tatsache allerdings sprechen nicht nur Experten und oppositionelle Republikaner aus – sondern auch die Regierung. Am Dienstagabend stellte sich US-Präsident Joe Biden spontan im Weißen Haus vor die anwesenden Journalisten.

Am Ende der Pressekonferenz wurde er auch nach der Entwicklung an der Grenze gefragt. „Wir tun alles, was wir können“, sagte er. Aber: „Das müssen wir abwarten.“ Und: „Für eine Weile wird es chaotisch zugehen.“

Ein US-Präsident, der eine chaotische Situation unter seiner Kontrolle zugibt: Die Lage muss ernst sein.

30.000
Migranten überquerten den Rio Grande illegal seit Mitte April.

Ein Blick auf die Zahlen bestätigt das. Die amerikanische Grenzbehörde Customs and Border Protection hat in den vergangenen Wochen allein aus der Grenzregion bei Brownsville/Texas dreimal am Tag Migranten abgeschoben.

Seit Mitte April sollen hier rund 30.000 Menschen illegal den Rio Grande überquert haben. In den ersten beiden April-Wochen haben die Beamten lediglich 1700 Migranten aufgegriffen. In El Paso, am anderen Ende von Texas rund 1400 Kilometer nordwestlich, sieht es ähnlich aus. Nach dem Auslaufen von Title 42 werden diese Zahlen nochmal ansteigen, so die Erwartung.

1500 zusätzliche Soldaten für die Grenze

„Wir haben uns seit einer Weile darauf vorbereitet, und wir sind bereit“, sagte Heimatschutzminister Alejandro Mayorkas bei einem Besuch an der Grenze in der vergangenen Woche. „Wir erwarten tatsächlich einen akuten Anstieg.“ Die Lage an der Grenze sei „extrem herausfordernd“.

Mexiko ist zum Schauplatz für Menschen aus aller Welt geworden, die versuchen, in die USA zu gelangen.

Muzaffar Chishti, Senior Fellow des Migration Policy Institute

Um die Gemüter zu beruhigen, wurden vor wenigen Tagen 1500 zusätzliche Soldaten an die Grenze geschickt. Für zunächst 90 Tage sollen sie dort administrative Aufgaben wie Dateneingabe und Lagerunterstützung ausführen, erklärte das Pentagon.

Biden betonte, sie sollen gegen Menschen- und Drogenschmuggel und als Unterstützung in Migrantenlagern eingesetzt werden. „Sie werden keine Strafverfolgungsfunktionen ausüben oder mit Einwanderern oder Migranten interagieren.“

Republikaner warnen, das Land werde „überrannt“

Der Präsident, der im kommenden Jahr wiedergewählt werden will, steht unter doppeltem Druck: Auf der einen Seite dramatisieren rechte Sender und Republikaner die Lage und sprechen davon, dass die USA „überrannt“ würden.

Auf der anderen Seite hat Biden eine „humane“ Einwanderungspolitik versprochen, die sich deutlich von der unter Trump abgrenzen sollte. Dass seine Regierung angesichts der steigenden Zahlen so lange an Title 42 festgehalten hat, hat ihm viel Kritik von Hilfsorganisationen und dem linken Flügel seiner Partei eingebracht.

Migranten kampieren am Ufer des Rio Grande nahe El Paso (Texas).

© AFP/Herika Martinez

Um die komplexe Situation zu verstehen, müsse man sich anschauen, wie sich die Migration verändert hat, sagt Experte Chishti. „Mexiko ist zum Schauplatz für Menschen aus aller Welt geworden, die versuchen, in die USA zu gelangen. Die Grenze sieht ganz anders als zu dem Zeitpunkt, an dem Title 42 eingeführt wurde.“

Die Zahlen seien hoch – und die Diversität der Nationalitäten sei sehr groß. „Die Migranten kommen aus Afrika, China, Indien und natürlich Zentral- und Südamerika.“ Auch immer mehr Menschen aus Russland und der Ukraine wählten diesen vermeintlich schnelleren Weg, um in die USA zu gelangen. Dazu komme, dass viele Länder ihre Bürger nicht zurücknähmen. „In Zentralamerika nehmen sie im Grunde nur die Mexikaner.“

Chishti sagt, Title 42 habe zuletzt immer weniger gegriffen. „Wurden bei der Einführung noch 81 Prozent der Migranten auf diese Weise abgeschoben, so waren es im ersten Halbjahr 2023 nur noch rund 35 Prozent.“

Muzaffar Chishti, Senior Fellow des Migration Policy Institute

© Migration Policy Institute

Es habe viele Ausnahmen gegeben, zum Beispiel für Kinder und Familien. Und da vier der größten Einwanderungsländer – Kuba, Haiti, Nicaragua und Venezuela – ihre Bürger nicht zurücknahmen, wurden diese Nationalitäten nicht abgeschoben. Für ihn ist die Diskussion über Title 42 stark parteipolitisch motiviert.

Die Biden-Regierung hat bereits umgesteuert

Angesichts dieser Herausforderung habe die Biden-Regierung ihre Einwanderungspolitik bereits geändert. „Erstmals in unserer Geschichte sagen wir: Wenn du nicht an einer Grenzkontrolle auftauchst und in keinem Drittland Asyl beantragt hast, bist du nicht asylberechtigt. Das ist ein fundamentaler Wandel“, erklärt Chishti. Die Annahme sei, dass das Menschen abschrecke, die Grenze illegal zu überqueren.

Das Problem sei nur, dies angesichts der steigenden Zahlen auch durchzusetzen. Die Angaben über die Zahlen gingen wild durcheinander, sagt der Experte. „Aber nehmen wir an, 10.000 Menschen kommen pro Tag an der Grenze an, aus ganz unterschiedlichen Ländern. Um die abzufertigen, brauchen Sie eine Menge Grenzbeamte.“

Wenn davon nur 2000 abgefertigt werden könnten, was passiere dann mit den restlichen 8000? „Sie können nach Mexiko zurückkehren und dort auf ihren Termin warten oder versuchen, die Grenze illegal zu überqueren.“

Schmuggler locken Migranten

Wie sich die Lage nun entwickelt, hänge auch vom Narrativ ab, das von Menschenschmugglern und in den sozialen Netzwerken verbreitet wird. „Wird da gesagt, wartet auf das Ende von Title 42, ab dem 11. Mai ist die Grenze offen, dann kann das der ,trigger point‘ sein. Menschen, die eine extrem schwierige und lange Reise hinter sich haben, die vor Krieg, Armut und Verfolgung fliehen, gibt dies Hoffnung.“

Jede US-Regierung würde das vor enorme Herausforderungen stellen. Der Biden-Regierung habe versucht, das Richtige zu tun, sagt Chishti. „Sie hatte die richtige Botschaft. Aber dann hat die Realität zugeschlagen. Unsere gegenwärtige Infrastruktur an der Grenze, unsere Gesetze sind an einer Situation ausgerichtet, wie sie 2008 an der Grenze herrschte.“

Damals seien es vor allem einzelne Männer aus Mexiko gewesen, die irgendwie in die USA gelangen wollten, um dort zu arbeiten. „Heute sehen wir viel mehr Familien und unbegleitete Minderjährige aus vielen verschiedenen Ländern.“ Um diese kümmern sich viele Hilfsorganisationen, die aber ebenfalls an ihre Grenzen gelangen.

Chishti sorgt am meisten, wie wenig die politischen Lager bereit seien, zusammenzuarbeiten. „Republikaner warnen vor einer Invasion, wenn Title 42 aufgehoben wird.“ Die Mehrheit von ihnen wolle kein Teil der Lösung sein. „Demokraten wiederum behaupten, es gebe keine Krise. Sie kritisieren, mit der Aufhebung zeige Amerika, dass es keine Einwanderung wolle. Und in der Mitte steht der arme Biden.“

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