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Eine Demonstration von Ukrainern und Ukrainerinnen in Berlin.

© archiv agentur zenit/Fritz Engel

Aus der Ukraine nach Berlin: „Ich möchte wieder ein friedliches Leben führen“

Der Tagesspiegel arbeitet mit fünf ukrainischen Journalistinnen zusammen. Hier schreiben sie über ihre persönliche Erfahrung mit dem Krieg und ihre Flucht nach Berlin.

Seit Mai vergangenen Jahres arbeitet der Tagesspiegel im Rahmen eines Hilfsprojekts mit fünf ukrainischen Journalistinnen zusammen, die vor dem Krieg in ihrer Heimat nach Berlin geflüchtet sind. Außerdem hat der Tagesspiegel im vergangenen Jahr mehrere russische Journalisten unterstützt, die ihr Land wegen ihrer Haltung zu Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine verlassen mussten. Das Hilfsprojekt wurde ermöglicht durch Dieter von Holtzbrinck, den Verleger des Tagesspiegels, der dafür die finanziellen Mittel zur Verfügung stellt. Hier stellen sich die ukrainischen Journalistinnen vor und schreiben von ihren Erfahrungen.


© Lydia Hesse/Tagesspiegel

Nadiia Kulish: „Ich wachte auf und befand mich an der Front“

Am 24. Februar kam der Krieg in meine Stadt. Ich komme aus Tschernihiw, einer Stadt zwischen Russland, Belarus und Kyjiw (diese Schreibweise der Hauptstadt kommt aus dem Ukrainischen, „Kiew“ dagegen aus dem Russischen, Anm. d. Red.). Ich wachte auf und befand mich an der Front, weil ich am Stadtrand wohnte. Die feindlichen Truppen versuchten, in die Stadt einzudringen, um auf Kyjiw zu marschieren. Meine Straße wurde ununterbrochen beschossen.

Am Morgen des ersten Kriegstages ging ich mit meiner Tochter hinunter in den Keller. Es war unmöglich, Wasser und Essen zu holen, weil wir ständig unter Beschuss waren. Ich hatte als Reporterin für das lokale Fernsehen gearbeitet. Nun wurde ich als Journalistin immer gefragter.

Ich kam aus dem Keller und filmte die Häuser, die von Raketen oder Granaten getroffen worden waren. Aus dem Keller, in dem ich mich versteckt hatte, berichtete ich live in Radio und Fernsehen, während im Hintergrund Explosionen zu hören waren. Die Russen bombardierten Krankenhäuser, Schulen und Wohngebäude. Doch die Bekanntheit, die mir der Krieg brachte, habe ich nicht gewollt.

Uns gingen die Lebensmittel aus, freiwillige Helfer trauten sich nicht zu uns. Damals habe ich das Leben meiner Tochter über meinen Beruf gestellt. Wir gingen zu Fuß ins Stadtzentrum und fuhren nach Berlin. Tschernihiw wurde 38 Tage lang von russischen Soldaten belagert. Am Ende wurde die Stadt erfolgreich verteidigt. In dieser Zeit wurden mehr als 500 Zivilisten getötet. Ich hatte das Glück zu entkommen, also riskiere ich es nicht, nach Hause zu gehen, um meine Eltern zu sehen, Kleidung und Dokumente zu holen. Ich glaube nicht, dass Gott uns ein zweites Mal beschützen wird.

Ich möchte so schnell wie möglich wieder ein friedliches Leben führen. In Berlin habe ich ein Fahrrad gekauft, es erinnert mich an meine Heimat. Wenn ich damit fahre, stelle ich mir vor, dass sich nichts verändert hat.


© Lydia Hesse/Tagesspiegel

Valeriia Semeniuk: „Ich will deutschen Lesern über die Ukraine berichten“

Um ehrlich zu sein, habe ich so gut wie nie für Zeitungen geschrieben, bis ich nach Deutschland kam. Ich habe seit mehr als 20 Jahren in der Ukraine beim Fernsehen gearbeitet. Nach meiner Ankunft in Deutschland verbrachte ich die ersten Monate damit, für den Fernsehsender Ukraine24 über das Leben ukrainischer Flüchtlinge in Berlin zu berichten. Ich filmte Menschen in Berlin mit meinem Handy.

Mit meinen beiden Kindern bin ich vor dem Krieg nach Berlin geflohen, mein Mann ist in Kyjiw geblieben. Aufgrund des Kriegsrechts dürfen Männer das Land nicht verlassen, auch wenn sie nicht beim Militär sind. Wenn ich keine Kinder hätte, wäre ich wahrscheinlich auch in der Ukraine geblieben, wie viele meiner Kolleginnen und Kollegen. Sie berichten über den Krieg, einige von ihnen haben sich freiwillig zur Armee gemeldet. Ich bin stolz darauf, sie zu kennen.

Wenn ich keine Kinder hätte, wäre ich wahrscheinlich in der Ukraine geblieben.

Valeriia Semeniuk, ukrainische Journalistin

Unser erstes Jahr in Deutschland war schwierig, auch wenn ich ein wenig Deutsch konnte, als ich hierherkam. Mein Sohn ebenfalls. Jetzt studiert er am Studienkolleg der Freien Universität Berlin. Meine Tochter ist noch in einer Willkommensklasse, wird aber hoffentlich bald in eine Regelklasse wechseln können. Ihre Fortschritte in Deutsch sind besser als meine.

„Auswanderung ist kein Tourismus“, sagte man in der Ukraine vor dem Krieg zu Menschen, die im Urlaub in europäische Länder reisten und davon träumten, dorthin auszuwandern. Wir Flüchtlinge sind nun von der Gültigkeit dieser Worte überzeugt. Ein Neuanfang in einem fremden Land ist schwierig, besonders wenn man unfreiwillig zu einem Migranten wurde.

Für den Tagesspiegel schreibe ich seit neun Monaten über die Ukraine, den Krieg und das Alltagsleben der Ukrainer. Für mich ist es sehr wichtig, den deutschen Leserinnen und Lesern davon zu berichten.


Yulia Valova

© Lydia Hesse

Yulia Valova: „Meine Arbeit gab mir die Kraft, weiterzuleben“

Anfang März 2022 veränderte sich Kyjiw vor unseren Augen. Anwohner errichteten behelfsmäßige Panzersperren und Mauern aus Sandsäcken. Kilometerlange Autoschlangen säumten die Tankstellen. Die Menschen flohen aus der Stadt. Meine Freunde riefen mich einer nach dem anderen an, um zu sagen, dass sie die Stadt verlassen würden. Sie forderten mich auf, ihnen zu folgen. Meine Redaktion stellte mit dem Beginn des Krieges die Arbeit ein.

Zuerst schlichen sich die Gedanken an die Flucht bei Einbruch der Nacht ein. Tagsüber vergaß ich sie, vertieft in das Schreiben von Notizen über den Krieg in meinen Blogs. Irgendwann schwand auch meine Lebenskraft. Ich hatte Angst und wusste nicht, wie ich weiterleben sollte.

Ich erinnere mich genau an den Moment der Entscheidung. An diesem Tag wollte ich einkaufen, aber auf dem Weg zum Laden wurde ich vom Heulen der Sirenen aufgehalten. Ich stand mitten auf einer Brücke, mir wurde klar, dass ich mich nirgendwo verstecken konnte. Ich starrte auf das trübe Wasser und schluckte die Panik hinunter. Auf dieser Brücke zerbrach meine Welt in zwei Teile. Mein Vorkriegsleben löste sich auf, ein neues Kapitel begann: „Flucht ins Ungewisse“. Als ich in einem überfüllten Zug saß, wusste ich nicht genau, wohin ich gehen würde.

Auf einer Brücke in Kyjiw zerbrach meine Welt in zwei Teile.

Yulia Valova, ukrainische Journalistin

Ich kam nach Berlin, in eine laute, multinationale Stadt, die mich mit ihrer Betriebsamkeit manchmal an meine Heimatstadt erinnert. Dank meiner Freunde und neuer Kollegen konnte ich hier mein altes Leben fast wieder aufleben lassen. Beim Tagesspiegel lernte ich, über den Krieg und die feindliche Armee zu schreiben und Informationen von Augenzeugen und Kämpfern einzuholen. Meine Arbeit gab mir die Kraft, weiterzuleben.

Aber manchmal stehe ich auf der Flucht vor schmerzhaften Empfindungen wieder mitten auf einer Brücke – dieses Mal in Berlin. Anders als in Kyjiw finde ich hier Trost, wenn ich dem Wasser zusehe, das unter der Brücke fließt.


© Lydia Hesse/Tagesspiegel

Oksana Meleshchenko: „Ich habe mich in Berlin verliebt“

Ich bin im März mit meiner Tochter aus der Stadt Cherson geflohen, die von russischen Truppen besetzt wurde. Das war sehr gefährlich - wir passierten Dutzende von Kontrollpunkten, und das Schlimmste war, durch das Kampfgebiet zu fahren. Aber wir haben es geschafft.

Meine Eltern sind in Cherson geblieben. Im vergangenen Jahr ist mein geliebter Vater gestorben, ich konnte mich nicht von ihm verabschieden. Mein Kollege Anton Kolomiets ist an der Front gefallen. Jeden Tag lese ich traurige Nachrichten aus Cherson, meine Mutter ist noch dort.

Nach meiner Flucht kam ich nach Berlin. Es war nicht einfach, sich sofort an ein neues Leben anzupassen. Ich bin unseren Angehörigen sehr dankbar, die uns geholfen haben, sowie dem Tagesspiegel, der uns Ukrainerinnen in sein Team aufgenommen hat. Unter sehr schwierigen Umständen, in einem neuen Land, fühlten wir echte familiäre und kollegiale Unterstützung.

Dennoch war dieses Jahr sehr schwierig. Wir haben unser Leben bei Null begonnen. Aber ich habe mich wirklich in Berlin verliebt. Ich freue mich, Menschen zu sehen, die jeden Morgen Zeitungen kaufen und lesen, und die mit ihren Hunden Gassi gehen. Übrigens gibt es in Berlin viel mehr Hunde als Katzen, und sie bellen nicht so laut wie in der Ukraine. Ich war erstaunt, wie viele Seen und Parks es in Berlin gibt. Selbst in den Straßen Berlins laufen Hasen, Eichhörnchen und Füchse. Auch die Staatsbibliothek liebe ich sehr. Und wie selbstlos arbeiten die Lehrer in unseren Deutschkursen! Danke an Deutschland für die Hilfe für die Ukrainer.


© Maria Bulanna

Olga Konsevych: „Ich habe gelernt, das Leben zu lieben“

Ich bin in Kyjiw geboren und aufgewachsen und war dort vor dem Krieg für eine der größten ukrainischen Nachrichtenseiten, 24tv.ua, verantwortlich. Im Sommer 2022 wurden viele Medien in der Ukraine geschlossen, auch mein Unternehmen baute Personal ab. Trotzdem ist es mein Ziel, das Publikum im Ausland über die Ukraine zu informieren. Deshalb ist das Projekt des Tagesspiegels so wertvoll für mich.

Ich kam im April nach Deutschland. Nach dem ersten Kriegsmonat schien es mir, als sei das bedächtige und friedliche Leben der Deutschen eine Art Dekoration, wie in dem Film „Die Truman-Show“. Meine Familie und ich ließen uns in einem Dorf an der Grenze zu Frankreich nieder. Dort gab es schöne Natur, entspannte Menschen, köstliches Essen – doch das Schuldgefühl der Überlebenden verfolgte mich überall.

Während dieses Jahres wurde ich von vielen Menschen inspiriert. Sie räumten mit vielen Klischees über die Deutschen auf, zum Beispiel dass die meisten Menschen hier im Überfluss leben, ohne Stress arbeiten und ihren Status und ihr Geld leicht verdienen.

Das zweite Klischee besagt, dass die Deutschen Regeln mögen und sogar von ihnen besessen sind. Ja, in Deutschland gibt es viele Regeln - von der Mülltrennung bis hin zur Regel, Dokumente per Post zu verschicken. Aber wenn es um persönliche Freiheiten geht, sind die Deutschen sehr offen.

Das dritte Klischee ist, dass die Deutschen ernst seien. So wie ich in Deutschland gelacht habe, habe ich schon lange nicht mehr gelacht. Die Deutschen wissen auch, wie man sich entspannen und abschalten kann. Sie versuchen, Zeit für Spaziergänge, Picknicks und kleine Vergnügungen zu finden, selbst wenn sie hart arbeiten.

Der Krieg und die Menschen haben mich in diesen Monaten mehr gelehrt als jede Universität. Ich habe gelernt, das Leben zu lieben. Ich leide nicht mehr unter dem Überlebensschuld-Syndrom. Nicht nur das - ich glaube sogar an die Zukunft.

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