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Vom Lehrer zum Schriftsteller. Hermann Borchardt, über den sein Freund George Grosz sagte: „Die Wahrheit war sein liebstes Hobby“. Das Foto wurde 1935 in Minsk aufgenommen.

© Akademie der Künste, Berlin, Bertolt Brecht-Archiv

Illusionslos und mit unverstelltem Blick: Der vergessene Provokateur

Zu seinen Lebzeiten wurden Hermann Borchardts literarische Erzeugnisse nicht veröffentlicht. Wissenschaftler der FU geben nun sein Gesamtwerk heraus.

Von Anne Kostrzewa

Zeit seines Lebens glaubte der Schriftsteller und Philosoph Hermann Borchardt daran, dass seine Stücke eines Tages veröffentlicht würden. Im Exil stand er jedoch stets im Schatten namhafter Weggefährten wie Bertolt Brecht, Lion Feuchtwanger oder Klaus und Thomas Mann.

Nun endlich, 70 Jahre nach Borchardts Tod, ist es so weit: Im Juli erschien der zweite Band einer Werkedition im Wallstein Verlag, herausgegeben von drei Wissenschaftlern der Freien Universität. Auf knapp 700 Seiten machen die Herausgeber Hermann Borchardts gesammelte dramatische Werke erstmals einem breiten Publikum zugänglich: Hermann Haarmann, emeritierter Professor für Kommunikationsgeschichte mit dem Schwerpunkt Exilliteratur, Christoph Hesse und Lukas Laier, beide Mitarbeiter am Institut für Kommunikationsgeschichte und angewandte Kulturwissenschaften.

„Ich glaube, Borchardt wäre sehr geschmeichelt, wenn er wüsste, was wir hier tun“, sagt Film- und Literaturwissenschaftler Christoph Hesse. Für die auf fünf Bände angelegte Edition arbeitete er sich jahrelang gemeinsam mit Hermann Haarmann und Lukas Laier durch deutsche und amerikanische Archive, stöberte in Bibliotheken und wertete Briefwechsel aus. Der aktuelle Band umfasst sechs vollständige Stücke, zwei Fragmente und fünf dramatische Szenen.

Fast unberührte Schätze, meisterhaft geschrieben

„Wir haben uns gefühlt wie Höhlenforscher“, sagt Christoph Hesse. „Stücke in Händen zu halten, die vor uns noch kaum jemand gelesen hatte, das war schon etwas sehr Besonderes.“ Auch der Kultur- und Kommunikationswissenschaftler Lukas Laier schwärmt: „Das Werk ist gefüllt mit fast unberührten Schätzen, die meisterhaft geschrieben sind.“

Doch wie kann es sein, dass ein Schriftsteller sein Leben lang Werke zu Papier bringt, die kein Intendant aufführen lässt, kein Verlag drucken möchte? Warum sollten seine Texte heute gelesen werden? „Borchardt war ein brillanter Autor, seine Stücke sind kontrastreich und behandeln alle Facetten des Lebens“, sagt Lukas Laier. „Er schrieb illusionslos, mit unverstelltem Blick auf die Welt.“ Jedes seiner im Exil entstandenen Stücke spielt in mindestens einem Akt im Konzentrationslager, wo Borchardt als deutscher Jude selbst ein Jahr verbringen musste, bevor er ins amerikanische Exil fliehen konnte. „Für seine zeitgenössische Leserschaft müssen diese Szenen trotz humorvoller und sarkastischer Zwischentöne wie ein Hieb in die Magengrube gewirkt haben“, sagt Lukas Laier.

Borchardt blieb sich treu - trotz Kritik

Und nicht nur das: Auch das totalitäre Regime der Sowjetunion, das Borchardt während einer Lehrtätigkeit in Minsk selbst erlebt hatte, wird in seinen Schriften scharf kritisiert. Das sei im amerikanischen Exil einem Tabubruch gleichgekommen. „Linke Exil-Autoren hielten sich mit Kritik an der Sowjetunion zurück“, erklärt Lukas Laier. Christoph Hesse ergänzt: „Hermann Borchardt ist sich selbst immer treu geblieben.“ Nie hätte er etwas unausgesprochen gelassen, nur um den Kritikern zu gefallen. „Sein Freund, der Maler George Grosz, sagte über Borchardt: Die Wahrheit war sein liebstes Hobby.“

Freunden und Bekannten habe er bald als Provokateur gegolten, wie Lukas Laier in seinem Nachwort zum ersten Band ausführt. Er fügt hinzu: „Wenn eine Gruppe sich in ihren Gedanken zu sicher fühlte, regte Borchardt Kritik an.“ So begann der gelernte Lehrer Borchardt seine schriftstellerische Tätigkeit in den 1920er-Jahren als – damals tatsächlich veröffentlichter – Dichter von Spottgedichten im KPD-Satiremagazin „Der Knüppel“, in dem er Sozialdemokraten, Nationalsozialisten und Militaristen verhöhnte, bis sich seine Kritik irgendwann auch gegen den Sozialismus wandte.

Borchardts Werkumfasst Theaterstücke, Romane und Streitschriften

Was ebenfalls kaum geholfen haben dürfte: „Seine Theaterstücke sind sehr personenreich, das hätte auf der Bühne ein Durcheinander aus Doppelbesetzungen und Statisten gegeben, deshalb haben sich die Intendanten am Broadway Borchardts Stücke nicht zugetraut“, vermutet Lukas Laier.

Hermann Borchardt, also eher ein dichtender Philosoph als ein Dramatiker, der sich partout nicht an Regeln hält? Nicht ganz. Zweimal in seinem Leben hätte sich das Blatt für ihn wenden können: 1943 brachte er sein Buch „The Conspiracy of the Carpenters“ zur Veröffentlichung und verdiente mit einem Vorschuss sogar daran, während er mit seiner fünfköpfigen Familie sonst von der Unterstützung von Freunden und Gönnern abhängig war. Doch das Buch verkaufte sich nicht.

Später habe Borchardt dann versucht, ein für den Broadway funktionierendes Stück mit nur einer Hand voll Protagonisten zu schreiben, erzählt Lukas Laier. Mit „Die Frau des Polizeikommissars“ von 1946 hätte er es auf die Bühnen New Yorks schaffen können, glauben die Herausgeber Laier und Hesse. Gespräche mit Intendanten habe es gegeben, genug Financiers jedoch nicht. Borchardt kehrte nach diesen Niederlagen wieder zu „seinem“ Schreiben zurück, in dem er großzügig Kritik nach allen Seiten austeilte, aber auch sein Trauma aus dem Konzentrationslager bearbeitete. Doch auch Schönes griff er in seinen Texten auf, etwa wenn er sich darin an deftige deutsche Gerichte erinnerte, die er im Exil vermisste.

Nächstes Jahr erscheint auch ein Roman von Borchardt

Trotzdem, so glaubt Lukas Laier, habe Borchardt nie nur für sich geschrieben, sondern sich beim Schreiben ein großes Publikum vorgestellt; er habe die Vorstellung einer Veröffentlichung nie aufgegeben. Das sieht Christoph Hesse auch darin belegt, dass Borchardt alle Manuskripte sehr ordentlich verfasst und teils sogar mit Hinweisen für mögliche Übersetzungen versehen habe.

So auch den Text, den die drei Herausgeber bei ihren Recherchen in North Carolina, USA, entdeckten: Dort, in der Rubenstein Library der Duke University, fanden sie, was sie kaum für möglich gehalten hätten: Zwei Kladden, gefüllt mit Hunderten Schreibmaschinenseiten. Ein ganzer Roman von Hermann Borchardt. Erscheinen wird er im kommenden Jahr, als dritter Band der Werkedition.

Für den Inhalt dieses Textes ist die Freie Universität Berlin verantwortlich.

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