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Harry Schulz

© privat

Nachruf auf Harry Schulz: „Na, alles gut?“

Der grummelige Nachbar: einer dieser verbitterten alten Herren? Weitgefehlt!

Jenny vermutete, dass ihr Nachbar, Tür an Tür, Wand an Wand, einer dieser verbitterten alten Herren sein musste. Herr Schulz grüßte nur knapp, hin und wieder auch gar nicht, machte überhaupt einen unfreundlichen Eindruck.

Eines Nachts, als Jenny durch die Wohnung tigerte, um ihr Baby zu beruhigen, sah sie Blaulicht durchs Fenster zucken: Ein Krankenwagen, direkt vor ihrer Haustür. Seine Frau, wie sie dann doch von ihm erfuhr, lange schon krank, von ihm gepflegt, kam ins Krankenhaus. Jeden Tag sah Jenny ihn nun, wie er das Haus verließ. Als sie ihn im Flur mit einer Tasche in der Hand traf, fragte sie: „Bringen sie ihr etwas mit?“ Er öffnete die Tasche, darin die Balkonblumen, die er ausgebuddelt hatte. Er wollte seiner Frau zeigen, wie schön sie blühten.

Wieder begegneten sie sich auf der Treppe, diesmal war er im Anzug. „Na, Herr Schulz, alles gut?“ - „Nee, meine Frau ist gerade gestorben.“ Kurzes Schweigen, dann umarmte Jenny ihn. Merkte wir er steif blieb, sie ließ dennoch nicht los. Glaubte zu spüren, wie ihn ihm etwas zu zerbrechen schien. Er fragte, ob er ihr einen Schlüssel zu seiner Wohnung geben könne, damit sie die nächsten Tage nachschauen kann, ob er noch lebt. Herr Schulz wusste nicht, wie er die Zeit jetzt überstehen sollte. Also öffnete Jenny die Tür jeden Morgen einen Spalt weit, rief hinein, ob alles okay sei. „Alles okay“, brummelte es zurück.

Er zeigte ihr die Sachen seiner Frau, Blusen, Broschen, Gürtel, fragte, ob sie Interesse hätte. Jenny lehnte ab. Dann lud er sie ein, hatte eine Diashow vorbereitet. Jedes Foto zeigte seine Frau in einem anderen Outfit. Wie sehr er sie geliebt haben muss, dachte Jenny. Gerda hieß sie. Kennen gelernt, hatten sie sich beim Tanzen. Weil sie hungrig waren, teilten sie sich eine Stulle. Getanzt haben sie für ihr Leben gerne. Einmal hatte eine Band versucht das Paar mit immer neuen Songs zur Aufgabe zu zwingen, doch die beiden hielten durch und tanzten die Band kaputt.

Ein Altar für Frau und Sohn

Einen Sohn hatten sie bekommen. Bernd, ein lieber Junge. Einmal schrieb er seinen Wunschzettel: „Lieber Weihnachtsmann, ich wünsche mir nichts, ich bin wunschlos glücklich.“ Mit 48 starb Bernd an Borreliose. Herr Schulz weinte, als er das erzählte. Einen kleinen Altar hatte er aufgebaut, darauf ein Bild seiner Frau, eine Vase mit drei Rosen, für seinen Sohn, für sich, für seine Frau.

Fesch sah er aus, Hemd, Lederjacke, Schiebermütze. Dann diese wachen Augen. Er sah, wenn Jenny Ohrringe trug. Kaum zu glauben, dass er schon über 90 war! Nie geraucht, kaum getrunken, kaufte selber ein, nahm den Bus. Wenn er ihn verpasste, lief er eben. Er machte täglich seine Kniebeugen. „Seh’nse, dit kannick noch!“

Als Jennys Staubsauger kaputt ging, öffnete er ihn und ärgerte sich, dass man an diesen neuen Dingern gar nichts mehr selbst reparieren konnte. Sehr feine Hände hatte er, obwohl er ein Malocher war.

Aufgewachsen war er in Moabit, als es noch Pferdekutschen gab. Einmal brachte der Vater eine Elster mit nach Hause, die sie zähmten. Einer Besucherin kackte sie aufs Hemd. Immer wieder erzählte Herr Schulz die Geschichte. Mit 16 musste er zum Arbeitsdienst, mit 18 in Hitlers letztes Aufgebot. Die Splitter einer Granate verletzten sein Bein, mit der S-Bahn fuhr er von der Front ins Lazarett, so nah waren die Russen da schon. Herr Schulz war sauer, auf die Kirche, die ihm zur Konfirmation noch gesagt hatte, dass er nicht töten dürfe, und dann? Auf Hitler sowieso. Er lernte Autoschlosser, fuhr LkW’s, arbeitete schließlich in einer Fabrik, in der Zähler aller Art hergestellt wurden. Er mochte das.

„Wir kennen uns schon so lange, ich bin der Harry“, sagt er eines Tages und gab Jenny die Hand. Den Kindern steckte er Süßigkeiten zu, kaufte der Tochter ein Kuscheleinhorn, schenkte der Familie selbst gemalte Bilder, eine Fee, ein Baum. Einmal hatte Jenny keine Zeit für ihn. Da packte er einen Korb mit Kaffeekanne und Kuchen, stellte ihn ihr vor die Tür, klingelte, rief: „Der Kaffee wird kalt“ und rannte in seine Wohnung zurück. Wenn sie sagte, dass er zum Arzt müsse, erwiderte er: „Wird schon wer’n mit Mutter Bär’n.“ Und sie: „Mit Mutter Horn ist’s ooch jewor’n.“ Das hatte er ihr beigebracht.

Harry suchte Seniorenheime in den Gelben Seiten, fuhr hin und fragte, ob es einen Platz für ihn gab. So klappte das aber nicht. Jenny suchte im Internet und wurde fündig. Eine kleine Heimwohnung, ohne Pflege, ohne Hilfe. Die hätte er sowieso nicht angenommen. Bücher, Werkzeuge und Möbel schenkte er Nachbarn, den Rest ließ er von drei Umzugshelfern aus Wedding mit einem über und über mit Graffiti bemaltem Umzugswagen einpacken, setzte sich zu ihnen nach vorne auf die Bank und fuhr davon. Am nächsten Tag stand er bei Jenny vor der Tür. „Zeit für einen Kaffee?“

Im Seniorenheim traf Harry Karin. Hand in Hand gingen sie am Treptower Kanal spazieren. Sie waren wichtig füreinander, gerade in der Coronazeit. Karin wurde dement und musste in ein Pflegeheim. Als Harry selber krank wurde, begleitete Jenny ihn durch die Krankenhäuser. Krebs hatte er, aussichtslos. Jenny besorgte ihm einen Platz im Hospiz. „Hauptsache ich komme auf die Beine“, sagte er, malte seine Bilder, hängte sie im Hospiz auf, ging zu Aldi, um sich seine Stullen und den Hering zu kaufen. Ließ sich nicht pflegen, sondern wusch sich selber, zog sich jeden Morgen eins von seinen feschen Hemden an und wartete auf Jenny.

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