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Diverse Ungleichheiten. Eine intersektionale Perspektive berücksichtigt mehrere Kategorien, um mehr Chancengerechtigkeit zu erlangen.

© Foto: picture alliance / Zoonar | scusi

Gleichstellung versus Stereotypen: Für Chancengerechtigkeit

Die Professorinnen Kathrin Zippel und Petra Lucht erforschen Perspektiven von Gender und Intersektionalität in der Wissenschaft.

Von
  • Kerrin Zielke
  • Marion Kuka

Ein herzliches Willkommen an der Freien Universität an Sie beide! Frau Zippel, Sie haben einen Schwerpunkt auf intersektionaler Genderforschung in der Soziologie. Was bedeutet dieser Ansatz?

KATHRIN ZIPPEL: Gender ist für mich Ausgangspunkt für Analysen von Ungleichheit, wirkt aber immer zusammen mit anderen Kategorien wie etwa Schichtzugehörigkeit, Ethnizität, Alter, und sexuelle Orientierung. Diese Aspekte interagieren auf unterschiedliche Arten. Wenn zum Beispiel eine Gleichstellungsmaßnahme nicht bei allen Frauen gleichermaßen ankommt, sondern womöglich ausschließlich einer relativ privilegierten Gruppe nützt, wird deutlich, dass eine solche intersektionale Perspektive nötig ist.

Frau Lucht, wie lassen sich Analysen intersektionaler Gender Studies auf Inhalte der MINT-Fächer – also Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik – übertragen?

PETRA LUCHT: Um diese spannende Frage zu beantworten, werden in der Geschlechterforschung gerade neue Ansätze erprobt. Eine intersektionale Perspektive kann etwa dabei helfen, in Forschung und Entwicklung neu zu denken. Als Beispiel kann ich ein Lehrforschungsprojekt aus dem Maschinenbau nennen. In einem Konstruktionslabor hat eine Studentin eine Figur und deren Prototyp mit einem 3-D-Drucker gestaltet, die sie als „Rebel Girl“ bezeichnet. Diese Person of Colour verfügt über außergewöhnliche Tools wie einen Spiegel der Umkehr, in dem Rebel Girl nicht sich selbst sieht, sondern die Person, der sie begegnet. Rebel Girl wurde als Gegenfigur zur Barbie-Puppe entworfen.

Welche Forschung verfolgen Sie derzeit?

KATHRIN ZIPPEL: Mich interessiert generell die Frage, wie sich ungleiche Machtverhältnisse in institutionellen Strukturen verändern lassen. Deshalb untersuche ich weniger das Verhalten Einzelner, sondern Veränderungen in Strukturen von Organisationen. Ganz konkret untersuche ich derzeit zum Beispiel, wie sich die Covid-19-Pandemie in verschiedenen Ländern auf Ungleichheiten in der Wissenschaft ausgewirkt hat. Die ersten Studien haben gezeigt, dass gerade diejenigen, die den größten Teil der Sorge-Arbeit – im Homeoffice und auch mit Studierenden in teilweise geschlossenen Bildungseinrichtungen – geleistet haben, starke Nachteile für Forschung und Publikationen und damit auch für akademische Karrierewege haben. Meine Frage ist deshalb, welche Formen von Gleichstellungsmaßnahmen waren nachhaltig, wurden also in der Krise nicht sozusagen vom Tisch gewischt, sondern womöglich an die neue Situation angepasst und konnten so den negativen Entwicklungen entgegenwirken?

Petra Lucht ist Professorin im Fachbereich Biologie, Chemie, Pharmazie mit dem Schwerpunkt Gender & Diversity

© Foto: Bernd Wannenmacher

PETRA LUCHT: Die Covid-19-Pandemie hat in vielerlei Hinsicht soziale Ungleichheiten verstärkt. Die soziale Herkunft und die Alltagswelten von Menschen spielten eine große Rolle dabei, wer während der Lockdowns stärkere Benachteiligungen erfahren hat. Ich war zum Beispiel an einem Projekt beteiligt, bei dem es darum ging, wie digitale Lehre verstärkt an Pflegeschulen eingesetzt werden kann. Wir haben sowohl Lehrkräfte wie Pflegeschülerinnen und -schüler in diese Technikentwicklung partizipativ eingebunden – das fiel mitten in die Pandemie. Innerhalb dieser Zielgruppen sind die Voraussetzungen für Teilhabe an Digitalisierung sehr heterogen. Für neue Technikentwicklung muss also soziale Ungleichheit reflektiert werden.

Wenn wir die Studienfach- und Berufswahl in Naturwissenschaften und Technik betrachten – was fällt auf?

Petra Lucht: In Deutschland gelten nach wie vor manche Studienfächer und Berufe als typisch „weiblich“ oder „männlich“. Diese Vorstellung haben bereits Kinder und Jugendliche. Die stereotypen Bilder werden im Alltag und durch Medien verbreitet. Dies zeigt sich unter anderem auch anhand von Aufdrucken auf T-Shirts – bei Produkten, die für Mädchen gedacht sind, dominieren Sterne und Glitzer und bei denen für Jungen Abenteuer und Gefahr. Diese allgegenwärtigen Vorstellungen beeinflussen Berufswahl und Lebensläufe, aber sie können überwunden werden – durch Diskussion und Kennenlernen. Beitragen können hierzu zum Beispiel die bundesweiten Berufsfindungstage Girls’Day und Boys’Day.

Welche Rolle spielen internationale Erfahrungen für Studium und akademischen Beruf?

KATHRIN ZIPPEL: In Deutschland wird die akademische internationale Mobilität über Austauschprogramme sehr gefördert. Für Studierende und Nachwuchskräfte ist es für eine Karriere in der Wissenschaft schon fast notwendig geworden, Erfahrungen im Ausland zu sammeln. Allerdings haben Studien gezeigt, dass Frauen in der Postdoc-Phase – also gerade dann, wenn es zählt – weniger ins Ausland gehen. Ich gehe davon aus, dass gerade Frauen von Kooperationen im Ausland noch mehr profitieren würden als ihre männlichen Kollegen. Deutsche Universitäten sollten auch aktiver diese „Brain Circulation“ unterstützen und gerade Frauen auch wieder für die deutsche Forschung zurückgewinnen. Wissenschaft lebt generell vom internationalen Austausch der Ideen und von Kooperationen, und durch die Einstein-Professur will ich auch meine internationalen Netzwerke für Berlin nutzbar machen.

Kathrin Zippel ist Professorin für Soziologie mit Schwerpunkt Gender Studies an der Freie Universität Berlin.

© Foto: Dirk Ahlgrim

Ist denn die Förderung von Diversity vor allem eine Frage der Gerechtigkeit, oder kann sie Organisationen für sich genommen nützen?

KATHRIN ZIPPEL: Es gibt viele gute Gründe, warum Organisationen Diversität fördern sollten. Zum Beispiel wissen wir aus der Forschung, dass diverse Teams bessere Ergebnisse und Produkte hervorbringen, allerdings unter einer Bedingung: dass sie in nichthierarchischen Strukturen organisiert sind und die Mitglieder sich tatsächlich einbringen können. Denn nur dann sind diverse Teams innovativer. Und besonders die Wissenschaft braucht kritische, konstruktive, innovative Ansätze, um Methoden und Theorien zu hinterfragen und damit neues Wissen auch für neue Herausforderungen zu produzieren.

PETRA LUCHT: In der Wissenschaft ist Diversity wichtig, um möglichst viele Standpunkte in die Bearbeitung von Forschungsfragen einzubeziehen. Dies kann dabei helfen, blinde Flecken zu erkennen – was auch zur Frage der Geschlechtergerechtigkeit führt. Ein Beispiel für einen solchen blinden Fleck aus der Informatik ist die Entwicklung von Software, die mittels semantischer Suche in Filmsequenzen nach Gewaltszenen sucht. Die Idee ist, angesichts der Fülle von Videos im Internet eine technische Lösung zu finden, um Altersbeschränkungen für Filme festzulegen. Unsere Analyse dieser Software zeigte, dass in den Videos allein männlich konnotierte Konzepte von Gewalt erkannt wurden: laute Geräusche oder rote Farbflächen. Häusliche, strukturelle oder psychologische Gewalt wurde nicht erkannt, also die Formen von Gewalt, die die Frauen- und Geschlechterforschung in den letzten Jahrzehnten in den Fokus gerückt hat.

Sie haben beide in den USA geforscht. Was ist für Sie persönlich bemerkenswert?

PETRA LUCHT: Nach meinem Physik-Diplom war ich Promovendin in der Soziologie an der Universität Hamburg und zugleich Gastwissenschaftlerin am M.I.T., dem Massachusetts Institute of Technology. Dort habe ich erlebt, mit welcher Selbstverständlichkeit sozialwissenschaftliche und historische Fragestellungen Teil von Forschung und Lehre einer renommierten Universität für Natur- und Technikwissenschaften sein können.

KATHRIN ZIPPEL: In Deutschland ist Gender-Forschung immer noch weniger anerkannt und hat wenig Ressourcen selbst in der Soziologie. Im Vergleich hat die Sektion Gender-Forschung in der „American Sociological Association“ die meisten Mitglieder. Eine beunruhigende Entwicklung gibt es in vielen Ländern, auch in Deutschland und in den USA: Gender-Forschung wird zunehmend von politischen Gruppierungen aktiv angefeindet. Einzelne Forschende werden persönlich diffamiert, ähnlich wie Fachleute zu anderen gesellschaftlich kontroversen Themen, etwa Klimawandel oder Covid-19. Dem müssen sich die Institutionen stellen, auch um die angegriffenen Personen wirksam unterstützen zu können.

Für den Inhalt dieses Beitrags ist die Freie Universität Berlin verantwortlich.

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