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Dr. Magnus Heier

© Stefan Braun

Im weißen Kittel: Gendern in der Praxis

Das genetische Geschlecht in hundert Billionen Körperzellen wird zu oft ignoriert.

Eine Kolumne von Dr. Magnus Heier

Wenn heute von verschiedenen Geschlechtern die Rede ist, von Cis- und Transgender etwa, dann ist meist das soziale Geschlecht gemeint. Das genetische Geschlecht in hundert Billionen Körperzellen und seine Bedeutung in der täglichen Medizin wird dagegen unterschätzt. Ein fataler Fehler: Die Gene sind nämlich nicht nur für Augenfarbe, Körpergröße und die Blutgruppe verantwortlich, sie beeinflussen auch den Stoffwechsel. Und damit zahlreiche Krankheiten, ihre Symptome und ihren Verlauf.

Das bemerkenswerteste Beispiel ist der Herzinfarkt: Der ist keine typische Männerkrankheit – es sind etwa gleich viele Frauen und Männer von Herz-Kreislauf-Erkrankungen betroffen. Frauen werden zwar vor der Menopause vermutlich durch das Sexualhormon Östrogen zumindest teilweise geschützt – danach allerdings nicht mehr.

Das Klischee des Herzinfarkts als „Männerkrankheit“ ist falsch

Das Klischee des Herzinfarkts als „Männerkrankheit“ führt dazu, dass er bei Frauen oft zu spät oder gar nicht erkannt wird. Frauen kommen oft später auf die Intensivstation oder werden weniger intensiv untersucht. Und das hat nur teilweise damit zu tun, dass die Infarktsymptome bei Frauen und Männern ganz anders aussehen können.

Die genetischen Unterschiede der Geschlechter sind erheblich: Frauen leiden häufiger unter Krankheiten des Immunsystems, vor allem unter Autoimmunerkrankungen, bei denen das Immunsystem gegen den eigenen Körper kämpft – wie etwa bei der Multiplen Sklerose. Männer werden häufiger durch Suchterkrankungen, vor allem Alkohol, auffällig. Ein Problem für Frauen: Viele Medikamente sind in Studien an Männern entwickelt und getestet worden – und wurden nie auf Frauen „optimiert“. Diese Defizite, oft schon Jahrzehnte her, werden nur langsam korrigiert.

Bei der Lebenserwartung, dem ganz großen Unterschied, wurden die Gene dagegen wohl eher überschätzt: Dass Frauen noch immer im Durchschnitt fünf Jahre älter werden, beruht wohl nur teilweise auf dem Erbgut – und zum größeren Teil auf psychosozialen Unterschieden. Männer verhalten sich im statistischen Mittel einfach anders: trinken mehr Alkohol, rauchen mehr, sind sozial isolierter und leben aggressiver. Diese Faktoren sind kein Schicksal.

Die bisher erschienen Folgen finden Sie auf der Kolumnenseite des Tagesspiegel.

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