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Gesundheit: Hegels Himmel über Berlin

Begeistertes Denken: Vor 200 Jahren erschien das Hauptwerk des Philosophen

Vor genau 200 Jahren erschien das vielleicht beeindruckendste Buch der Philosophiegeschichte. Manche sagen, es ist zugleich das schwierigste: Georg Wilhelm Friedrich Hegels „Phänomenologie des Geistes“. Aber das lebendigste ist es auch! Der Verfasser soll das Werk 1806 unter dem Donner der Schlacht bei Jena vollendet haben – das stimmt wohl nicht ganz, hätte aber gut gepasst. Urknall zu Urknall! Nur: Keiner hat ihn gehört.

Niemand hat diesen kolossalen Band bemerkt, viele Jahre lang nicht. Bei Erscheinen, im März 1807, war Hegel gerade Journalist. Er redigierte die Bamberger Zeitung. Niemals vorher und niemals nachher hat ein Journalist ein solches Buch veröffentlicht.

Phänomen gleich Erscheinung, -logie gleich Wissenschaft. Eine Wissenschaft der Erscheinung also? Keineswegs. Eine Wissenschaft vom Erscheinen. Die Erscheinensgeschichte des aufgehenden Wissens. Wer erfahren will, in welche Begeisterungen das reine Denken versetzen kann, muss dieses Buch lesen.

Und doch hätten wir seinen zweihundertsten Geburtstag beinahe verpasst ohne das Internationale Hegel-Symposion „Gestalten des Bewusstseins. Genealogisches Denken im Kontext Hegels“ in Berlin. Ein internationales Symposion zu Hegel ist insofern erstaunlich, als das zeitgenössische philosophische Bewusstsein inzwischen gründlich enthegelt ist, zuerst also das Bewusstsein der Studenten. Weniges ist so verpönt wie das genealogische Denken, und die alte Frage „Kant oder Hegel?“ scheint längst eindeutig zugunsten Kants entschieden.

Da ändert es wenig, wenn in Japan Bücher mit so schönen Titeln wie „Shizenhou oyobi kotsukagaku nikansuru kougi“ erscheinen, das sind Hegels Vorlesungen über Naturrecht und Staatswissenschaft. Umso erstaunlicher, als am dritten Konferenztag ein nicht ganz unbekannter Kantianer von der Humboldt-Uni vorschlug, das „oder“ endlich aufzugeben. Setzen wir stattdessen endlich ein „und“!, forderte Volker Gerhardt. Kant und Hegel!

Aber geht denn das? Hegel denkt vorkantisch und nachkantisch zugleich. Was den jungen Hegel nervte, war im Grunde der Zustand der Philosophie, den wir heute haben. Die Philosophie bestand aus Erkenntnistheorie auf der einen Seite und aus Moral/Ethik auf der anderen Seite. Und dazwischen war nicht viel. Genau wie heute. Bei Hegel ist alles dazwischen.

Vier Tage lang beugten sich im Leibniz-Saal der Berlin-Brandenburgischen Akademie am Gendarmenmarkt Philosophen und Nicht-Philosophen über das Werk und seine mögliche Aktualität. Kann sein, Hegel hat in seiner Eigenschaft als Weltgeist auch teilgenommen, der Ort dürfte ihm eine gewisse Befriedigung bereitet haben, denn die Preußische Akademie der Wissenschaften hatte einst versäumt, ihn aufzunehmen. Ihn, den Denker des Weltgeists!

Der Weltgeist ist das erkennende Subjekt in der „Phänomenologie“, also gewissermaßen Gott, nur dass Gott bei Hegel nicht als Gott anfangen darf zu denken, sondern als die ärmste Gestalt des Bewusstseins überhaupt, als „sinnliche Gewissheit“. Diese würde wahnsinnig werden an sich selbst, dürfte sie nicht bald „Wahrnehmung“ werden. So erarbeitet das Bewusstsein sich selbst – immer schon weltvermittelt; es gibt keine „zwei Stämme der Erkenntnis“ wie bei Kant –, wird „Selbstbewusstsein“ und auf der Reise zu sich auch naturgeschichtliches und Geschichtsbewusstsein. Um ganz zum Ende beim „absoluten Geist“ (Religion, absolutes Wissen) anzukommen. Kein Wunder, dass die Vorträge Titel trugen wie „Geschichten des Selbstbewusstseins“ (Jürgen Stolzenberg, Halle), „Selbstorganisation und System. Theorie der Evolution in drei Jahrhunderten“ (Peter Schuster, Wien) oder „Phänomenologie und historische Ontologie“ (Michael Hampe, Zürich). Ontologie. Da war es, das schreckliche Wort. Das Grundverbot der neueren Philosophie lautet: Keine Ontologie! Also keine Seinslehre. Die Metaphysik ist tot. Und jede Wiedererweckung ist a priori vorgestrig und latent reaktionär. Wirklich?

Am besten ließ sich das wohl am dritten Konferenztag überprüfen, denn er gehörte ganz der Moral. Also einer Sache, die es bei Hegel gar nicht gibt, jedenfalls nicht in der abstrakten Form wie bei Kant oder heutigen Ethikern. Henning Ottmann aus München und Gertrude Lübbe-Wolff, Verfassungsrichterin in Karlsruhe, gaben sich offen als Hegel-Sympathisanten zu erkennen. Ottmann fand es überaus begrüßenswert, wie Hegel die Moralität der Sittlichkeit unterordnet, dabei machen alle von Rawls bis Habermas das Gegenteil. Die Verpflichtungen der Nähe seien grundsätzlich stärker als die der Ferne, man könne von keinem Vater verlangen, alle Söhne so zu lieben wie die eigenen. Erst Familie und Staat würden aus dem abstrakten Menschenwesen wieder eines mit Herkunft machen. Eine Gleichberechtigung von Moral und Sittlichkeit, sagte Ottmann, scheine ihm unmöglich und seine Begründung war sehr hegelisch: Die Autonomie als solche sei zunächst leer.

Hegels Stärke ist sein Wirklichkeitsblick, die Schule seines Denkens ist nie abstrakt. Wohl deshalb gab die Karlsruher Richterin Lübbe-Wolff zu, an der Aktualität der Hegelschen Rechtsphilosophie geradezu zu leiden: Wie ohnmächtig oft unser Reden über Werte und das Sollen. Hegel dagegen hebt das abstrakte Gegenüber von Moral und Recht im Begriff der Institution auf. Wie viel sei hier zu lernen über „institutionelle Intelligenz“! Walter Jaeschke ergänzte schließlich zu 200 Jahren „Phänomenologie“ ein Kapitel, das Hegel glatt vergessen hat zu schreiben: die Geschichte des Rechts als Geschichte der Freiheit.

Und doch ist es kein Zufall, dass es bei Hegel keine „Menschenrechte“ gibt. Zwei Dinge, hatte Kant gesagt, erfüllen das Bewusstsein mit höchster Ehrfurcht: „der bestirnte Himmel über mir und das Sittengesetz in mir“. Hegel blickte – nach Auskunft seines Hörers Heine – ganz anders in den Nachthimmel über Berlin: Die Sterne, hm, hm, sind doch nichts weiter als Aussatz am Himmel!

Die Alternative Kant oder Hegel ist tatsächlich fatal. Aber mit „Kant und Hegel“ ernst zu machen, hieße wohl, das Ontologieverbot des philosophischen Durchschnittsbewusstseins (Vorsicht Metaphysik!) endlich aufzuheben. Schon im Namen einer von Philosophen meist unterschätzten Sache: der Wirklichkeit.

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