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Alzheimer: Allein unter Fremden

Die Zahl der Demenzkranken steigt, auch bei Migranten. In Berlin bereitet man sich darauf vor.

„Es gibt ein Leben nach der Diagnose Alzheimer.“ Christian Zimmermann weiß, wovon er spricht: Bei ihm wurde die schockierende Diagnose gestellt, als er erst 56 Jahre alt war – in einem so frühen Stadium, dass ihm noch Raum für eigene Entscheidungen blieb. So hat der Unternehmer die Leitung seiner Firma an seine Frau übergeben. Er macht sich Gedanken, wie es mit seiner Behandlung und Versorgung weitergehen soll, wenn er selbst eines Tages nicht mehr darüber entscheiden kann. Und er hat Mut gefasst, Dinge zu tun, die er früher nicht gewagt hätte. Er will Theater spielen, solange das noch geht. „Man muss sein Leben neu bauen mit dem Wissen, dass man diese Krankheit nicht mehr los wird“, sagt er ganz realistisch.

Dass ein Mensch, den die Demenz-Erkrankung getroffen hat, vor Hunderten von Zuhörern darüber spricht, wie Zimmermann es am vergangenen Donnerstag beim 5. Kongress der Deutschen Alzheimer Gesellschaft in Erfurt tat, wird viele erstaunen. Für Heike von Lützau-Hohlbein, Vorsitzende der Gesellschaft, wird es höchste Zeit, dass wir umlernen: „Unser Blick auf die Krankheit ist zu sehr von der späten Phase geprägt. Wir müssen dabei auf die Menschen hören, die noch für sich selbst sprechen können.“

In vielen Fällen scheitert das allerdings schon an der Sprache: Denn die Zahl der Demenzkranken hierzulande, die nicht oder nur schlecht deutsch können, steigt rapide an. Der geistige Verfall ist eine typische Alterserkrankung, und die Zahl der Migranten über 65 Jahre wird sich in den nächsten zehn Jahren in einer Stadt wie Berlin verdoppeln. Heute leben in Deutschland mehr als 15 Millionen Menschen mit „Migrationshintergrund“. Viele der „Gastarbeiter“, die in den sechziger oder siebziger Jahren einwanderten, wollten eigentlich nicht bleiben. Nun werden sie doch in Deutschland alt.

Gerade diese Menschen leiden häufig schon in jüngeren Jahren an Altersleiden. Denn viele der Einwanderer haben körperlich anstrengende Jobs gemacht, Schichtarbeit und Fremdheitsgefühle haben sie auch psychisch belastet. „Die Migranten, bei denen wir kognitive Beeinträchtigungen diagnostizieren, sind im Schnitt zehn Jahre jünger“, sagt der Psychiater Murat Ozankan, der im Krankenhaus Langenfeld bei Köln eine Migrantenambulanz leitet. Außerdem ist die Vorstellung verbreitet, Demenz sei ein Schicksal, für das man sich schämen müsse. „Die Krankheit ist stigmatisiert, vor allem türkische Familien schotten sich oft ab“, sagt die Psychologin Fatma Sürer vom Bezirkskrankenhaus in Augsburg. In der Türkei wird zwar zunehmend über die Krankheit aufgeklärt – doch von solchen Entwicklungen seien die meisten älteren Türken, die seit Jahrzehnten in Deutschland leben, abgeschnitten. Noch dazu führt der Verlust des Kurzzeitgedächtnisses sie emotional eher an Ort und Zeit ihrer Kindheit zurück. Das liegt in der Natur der Krankheit.

Andererseits leben sie in Deutschland schon längst nicht mehr in der Geborgenheit eines großfamiliären Netzwerkes. „Die Annahme, dass der Zusammenhalt in türkischen Familien enger sei, hat sich nicht bestätigt“, sagt Filiz Küçük, die gerade an der Berliner Alice-Salomon-Fachhochschule eine Arbeit dazu abgeschlossen hat. Die Töchter, Söhne und Enkel der Demenzkranken, die Küçük befragt hat, klagten ebenso wie deutsche Angehörige in vergleichbaren Studien über zeitliche Beanspruchung und soziale Isolation. Die Hälfte von ihnen litt darüber hinaus unter Konflikten innerhalb der Familie. „Wenn es hart auf hart kommt, kommt es auch in türkischen Familien zu Brüchen.“ Obwohl alle Interviewpartner gut deutsch sprachen, wünschten sie sich muttersprachliche Berater. Psychiater Ozankan möchte die Familien gerne ermutigen, auch die deutschsprachigen Angebote anzunehmen. Dabei würde es allerdings helfen, wenn wenigstens in der ersten Anlaufstelle jemand ihre Muttersprache spreche.

Gerade in der Hauptstadt gibt es schon eine Menge Initiativen für Migranten, wie türkische Tagespflege und ein türkisches Pflegeheim (siehe Kasten). Beim Informationszentrum „Idem“ gibt es zum Beispiel eine Beratung in mehreren Sprachen. „Wir gehen auch in Moscheen und berichten darüber, dass Alzheimer keine Strafe Gottes ist und welche Hilfen man in Anspruch nehmen kann“, sagt Idem-Mitarbeiterin Derya Wrobel.

Viele Dinge sind eben in Istanbul nicht anders, nicht leichter und nicht schwerer als in Köln oder Berlin. „In den ersten Jahren kann die Wahrnehmung des eigenen Krankseins zur Beschämung führen, oft ist sozialer Rückzug die Folge, die Menschen werden manchmal auch wütend oder depressiv“, berichtet Alexander Kurz, Psychiatrieprofessor an der Technischen Universität München. Und das geht auch Patienten so, die in der deutschen Kultur aufgewachsen sind. Doch gerade in dieser frühen Phase könnten die Betroffenen noch über ihre Zukunft mitentscheiden und offen mit der Alzheimer-Erkrankung umgehen – so wie der Unternehmer Christian Zimmermann das tut. „Die Gemeinheit besteht darin, ihnen diese Möglichkeit nicht zu geben, weil die Diagnose zu spät kommt“, sagt der Demenz-Experte.

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