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Im Musical-Studium lernt man drei Disziplinen: Tanz, Gesang und Schauspiel. Andrea Wesenberg im Tanzunterricht.

© Marion Borriss

Gesichter der UdK Berlin: Nicht ohne eine Portion sie selbst

Ohne Ballett-Hintergrund zum Musical? Andrea Wesenberg hat es geschafft.

Die Musik läuft. In zwei Takten fängt die Choreo an. Andrea Wesenberg steht in schwarzen Leggins im Proberaum, ihr Shirt ist am Bauch zusammengebunden, die Muskeln zucken schon. Ihr Blick ist nach vorne gerichtet. Gleich kommt der Einsatz. Doch der Tanzlehrer macht die Musik wieder aus und ruft den anderen Studierenden zu: „Ich weiß, ich sag es 1000 Mal, aber guckt euch Andrea an. Die steht hier und bei ihr spüre ich: Die legt gleich los!“

Andrea Wesenberg studiert im dritten Jahr Musical/Show an der UdK Berlin. Vor zehn Jahren hätte niemand geglaubt, dass sie einmal studieren oder gar als Vorbild herangezogen würde. Vielleicht am allerwenigsten sie selbst. Vor zehn Jahren wiederholte sie gerade die zehnte Klasse. „Problemkind“ war das Wort, das man in der Schule für sie fand. „Ich glaube, manche Lehrer hatten mich echt abgeschrieben“, sagt Wesenberg und schüttelt den Kopf mit dem blond gefärbten Kurzhaar-Bob. Sie ist in Wilmersdorf aufgewachsen – aber nicht so, wie man sich das vielleicht vorstellt. Schon ihre Grundschulklasse war nicht die einfachste. Viele ihrer Mitschüler wohnten in der Notunterkunft nebenan. Für sie gehörte es zum Alltag, mit Kindern zu spielen, die am nächsten Tag abgeschoben wurden.

„Aber jetzt bin ich hier!“, sagt Wesenberg. Das ist sie wirklich, und zwar mit voller Präsenz. In diesem Gespräch, in diesem Studiengang, in dieser Lebensentscheidung. Bestimmt, aber mit Leichtigkeit läuft Wesenberg durch das UdK-Gebäude in der Grainauer Straße. Sie trägt Boxershorts, Sneakers und ein bauchfreies Shirt. Bis eben hatte sie noch Proben. Die Studentin schließt einen kleinen Proberaum auf und setzt sich im Schneidersitz auf das alte Stoff-Sofa. Sie lehnt sich nach vorn, blickt aufmerksam.

Mit 15 Jahren schrieb sie ihr erstes Lied

Wesenberg spricht mit Leidenschaft, gestikuliert, lacht laut, denkt nach, macht Pausen, spricht langsam oder auch mal ganz leise, um dann mit Inbrunst etwas auszurufen, was sie genau in diesem Moment denkt. „Mir ist es wichtig, dass ich Leute berühre, dass ich etwas bewege“, sagt sie, ihre Stimme ist heller als erwartet. Dann denkt sie noch mal nach. „Wer weiß, vielleicht möchte ich am Ende auch nur bei mir selbst etwas bewegen!?“

„Ich hätte niemals gedacht, dass sie mich nehmen“, erinnert sich die 26-Jährige. Schließlich hat sie eine etwas andere Jugend verbracht als ihre Kommilitoninnen und Kommilitonen. Sie war nicht schon als kleines Mädchen im Kinderensemble vom Friedrichstadtpalast, hat kein Instrument gelernt und hatte nicht jahrelang Ballett- und Musiktheorie-Unterricht. Aber getanzt hat sie schon früher. Zu R’n’B und HipHop. Snoop Dogg, Pharrell, Justin Timberlake. Und sie hat gesungen. In einer Schulband. Und später als Vorband von den Atzen.

Mit 15 schreibt Wesenberg ihr erstes Lied. Ihr neun Jahre älterer Bruder macht die Beats dazu. Bei einem Wettbewerb landet das Geschwister-Duo unter den ersten zwölf, später bekommt der Song auf YouTube immer mehr Klicks, wird im Soda Club gespielt und landet in den VIVA Club-Rotation Charts auf Platz 1. Noch heute bekommt Wesenberg von der GEMA Geld dafür. 200 Euro hatte ihr damals eine andere Band für die Lyrics geboten. Sie ist immer noch stolz, dass sie das Geld als 15-Jährige ausgeschlagen hat: „Ich verkauf doch nicht meine Stimme! Das ist mein erster Song, ich verkauf doch nicht mein Baby!“

Die Unverkäuflichkeit hat sie sich erhalten. Zur Aufnahmeprüfung bereitet Wesenberg neben traditionellem Musical-Repertoire jeweils einen Song von Pink und von Erykah Badu vor. Power, Power, Power – so hat sie es schon von ihrer Mutter gelernt. Wesenberg ist zu diesem Zeitpunkt 23, hat in den vergangenen Jahren gejobbt und – vor allem – gelebt. Von Musik-Tour über Zalando bis zum Sleaze Magazine war alles dabei. Jetzt weiß sie, was sie will. Und was es bedeutet, sich völlig darauf einzulassen.

Plötzlich legt sich ein Schalter um

Schon vier Wochen vor der Aufnahmeprüfung geht sie nicht mehr aus, probt nur noch. Doch die Anspannung ist groß, und nur zwei Tage vor der Prüfung landet sie schließlich doch in einem Club, kommt erst am nächsten Tag um 16 Uhr wieder raus und schläft bei einer Freundin. Plötzlich ist die Zeit knapp: Ihr Bruder muss ihr die CD mit der Tanzmusik vorbeibringen. Er soll sie auf dem Weg zur UdK abpassen. Als sie sich schließlich in der S-Bahn treffen, steigen ihr Tränen in die Augen. Er sagt nur: „Du schaffst das, Andrea!“

In dem Moment legt sich ein Schalter um. Alle Aufregung ist weg. Sie nimmt sich vor: „Ich mach die fertig!“ Andrea Wesenberg klatscht in die Hände, als sie davon erzählt. „Das mit dem Club war das Beste, was ich hätte machen können! Ich habe diese wochenlange Anspannung einfach weggetanzt.“

Und dann singt sie vor dem Auswahlkomitee. Und tanzt. Und ist überzeugt von sich. „Nicht, weil ich dachte, ich hab die geilste Stimme, ich hab die höchsten Beine, ich kann am meisten. Sondern ich hab gedacht: Entweder nehmt ihr mich oder ihr nehmt mich nicht! Aber: Ich bleibe ich.“

Und wenn sie singt, dann singt sie nicht nur. Dann lebt sie den Song. Gesicht, Stimme, Arme, Beine – der ganze Körper macht mit. Nach dem Song sagt ihr der Studiengangsleiter, sie habe quasi schon eine Szene gespielt. „Aber nicht, weil ich gespielt habe, sondern weil ich einfach gewesen bin.“

Kurzentschlossen schnitt sie sich für eine Rolle die Haare ab

Dann kommt die Zusage. Zusammen mit elf Erstsemestern findet sich Wesenberg im Studiengang Musical/Show an der UdK Berlin wieder. Die anderen kennt sie kaum, aber gleich die ersten Begegnungen sind intensiv. Sie schmeißt sich in die Balladen und Chansons und bringt ihre Kommilitonen regelmäßig zum Weinen. In einer Schauspielpräsentation schneidet sie sich kurzentschlossen die Haare ab – weil es zu der Rolle passt. „Du bist so authentisch“, hört sie oft. „Vielleicht habe ich die Töne nicht exakt getroffen oder hatte nicht die perfekte Technik, aber für mich ist es einfach selbstverständlich, dass ich mich zu hundert Prozent in einen Song reinwerfe.“

Wie sensibel sie eigentlich ist, wird Andrea Wesenberg erst nach und nach klar. Und dass es für diesen Beruf sogar von Vorteil sein kann, viel gelebt und erlebt zu haben. Klar, sie muss doppelt so viel Musiktheorie lernen wie manch anderer. Aber sogar der eine oder andere Schicksalsschlag hatte – für ihre künstlerische Persönlichkeit – letzten Endes etwas Gutes, dessen ist sie sich sicher. „Ich glaube, man rührt andere in den seltensten Fällen zu Tränen, wenn man nicht selbst Schmerz gefühlt hat oder gerade fühlt. Es kann auch einfach bedeuten, dass ich weiß, wovon ich spreche“, sagt sie.

Die Dinge müssen einen Sinn haben. Sonst fällt es der Studentin schwer, sie zu akzeptieren. Aber wenn sie dahinter steht, spielt sie auch mit Hingabe einen Romeo. Einen Draufgänger-Romeo mit Adidas-Jacke und Gigolo-Attitüde, wie im vergangenen Jahr im Musicalprojekt „LIEBER TOT“. Als sie davon erzählt, fängt Andrea Wesenberg sofort wieder an zu spielen. Der Shakespeare-Vers, den sie vorträgt, klingt bei ihr fast wie „Hör ma’ zu, Püppi!“. Sie lächelt, wenn sie an die Premiere denkt, an den Moment, in dem sie auf der Bühne alles andere vergisst. Nach der Vorstellung dann schmeißt sie die Jacke ab, legt Schminke auf und schlüpft in High Heels. Auf geht’s zur Premierenfeier.

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