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Die Fotografin Rita Ostrovska (M., hier mit Familie) hat ihre Ausreise aus der Ukraine 2001 dokumentiert. Die Serie ist im Jüdischen Museum Berlin zu sehen.

© Rita Ostrovska

70 Jahre Zentralrat der Juden: Wie man aus der Thora liest

Seit 1990 sind Zehntausende jüdische Einwanderer aus Osteuropa nach Deutschland gekommen. Die neue Dauerausstellung im Jüdischen Museum Berlin widmet sich ihrer Geschichte.

Schreibmaschinen strahlen in einer Zeit, in der sogar der PC langsam verschwindet und durch tragbare Computer in der Hosentasche ersetzt wird, eine besondere Nostalgie aus. Sie sind Erinnerungsmaschinen – vor allem dieses Modell, Typ „Erika“, Dresdener Fabrikat, unten weiß, oben türkis, mit kyrillischen Buchstaben. Zu sehen ist es in der neuen Dauerausstellung des Jüdischen Museums Berlin. In den 70er Jahren tippte der Besitzer Naum Kruk auf diesem Gerät Ausreiseanträge für Juden in der Sowjetunion. Und betätigte sich dabei auch mal als Schriftsteller. Er erfand Geschichten, Lebensläufe, Familienverhältnisse, Einladungen nach Israel. Als er und seine Familie schließlich selbst ausreisten, nahmen sie nur zwei Koffer mit – und diese Schreibmaschine.

Naum Kruks Geschichte ist eine von Tausenden. Rund 200 000 Jüdinnen und Juden sind nach dem Mauerfall aus der früheren Sowjetunion nach Deutschland gezogen – nicht alle sind hier geblieben. Nach Angaben des Zentralrats leben heute geschätzt 150 000 Juden in Deutschland. Rund 95 000 sind in Gemeinden organisiert. Bis zu 85 Prozent der Mitglieder sind laut Zentralrat Einwanderer aus den früheren Sowjetrepubliken. „Wir haben jüdische Gemeinden in Berlin, Düsseldorf oder Dresden gefragt, ob Mitglieder uns Exponate zur Verfügung stellen würden, die sie mit ihrer individuellen Migrationsgeschichte verbinden“, erklärt Martina Lüdicke. Sie hat den Teil der Dauerausstellung mitkuratiert, der die Epoche nach 1945 erzählt, also die Jahrzehnte, in denen jüdisches Leben in Deutschland nach der unfassbaren Katastrophe der Shoah langsam wieder neu entstand. Stärker als die Vorgängerausstellung nimmt die neue Schau die Phase bis zur Gegenwart in den Blick. Ein Abschnitt befasst sich mit Zuwanderung – übrigens nicht nur aus der Sowjetunion, sondern auch aus dem Iran, Polen, der Tschechoslowakei oder Rumänien.

Das Drama einer abgebrochenen Karriere

Hier erzählen alle Objekte eine persönliche Geschichte. „Stifterinnen und Leihgeber haben selbst entschieden, was für sie bedeutsam ist, was ihre Migration besonders eindringlich symbolisiert“, so Lüdicke. Neben Naum Kruks Schreibmaschine ist das auch ein mit rotem Stoff ausgeschlagenes Zirkelkästchen. Besitzerin Elina Klyuchenko war Ingenieurin, 2001 wanderte sie aus, das Kästchen erzählt das Drama einer abgebrochenen Karriere. Oder die koschere Pfanne von Vera Primakova aus Dresden: Ihre Großmutter hatte sie für milchige Speisen verwendet, sie selbst buk Plinsen darin, bis sie die Pfanne dem Museum zur Verfügung stellte. Oder ein in seiner Schlichtheit anrührender Filmprojektor von Robert Schulzmann. Der 34-Jährige kam als Kind nach Deutschland, mit dem Projektor hatten seine Eltern in Riga Märchenbilder an die Wand projiziert. Unter einer gläsernen Fußbodenplatte sind Bücher jüdischer Autorinnen und Autoren gestapelt, die in den letzten Jahrzehnten eingewandert sind, der berühmteste: Wladimir Kaminer. Viele der neu Angekommenen haben diese literarische Form des Ausdrucks gewählt.

Ein Zeitstrahl sorgt für das nötige Faktengerüst. Dort liest man etwa: 1949 lebten 16 000 Jüdinnen und Juden in den beiden Deutschlands. 1998 hatten die Gemeinden exakt 74 289 Mitglieder, davon 53 559 aus der ehemaligen Sowjetunion. Ohne Immigration würden die deutschen jüdischen Gemeinden schrumpfen. Natürlich können so massive Verschiebungen der Mehrheitsverhältnisse auch zu kulturellen Konflikten in den jüdischen Gemeinden führen. Viele Juden aus der UdSSR waren nicht gläubig, wurden in Deutschland mit einer für sie neuen Form von Religiosität konfrontiert. Die Ausstellung spart das nicht aus. Die Probleme blitzen auf in Zitaten wie dem von Schriftsteller Jan Himmelfarb, der von seinem ersten Besuch in der Synagoge berichtet: „Gleich beim Eintritt in den Gebetsraum ergriff mich ein Rabbiner bei der Hand, fragte, ob ich Jude sei, legte mir, als ich bejahte, einen weißen Umhang um die Schultern und befahl mir, mich in die erste Reihe zu setzen. Was will der von mir?, fragte ich verschüchtert einen alten Mann, der neben mir saß. Sie werden gleich nach vorne gerufen und aus der Thora vorlesen, erklärte er. Warum ich? Ich weiß nicht, was ich machen muss, ich war noch nie bei einem Gottesdienst. Kann das niemand anderes machen?“

Im nächsten Raum läuft ein Videoclip zum Song „Gara be Berlin“ („Sie lebt in Berlin“) von Kobi Luria und Reut Yehuda über eine Israelin und ihren deutschen Freund, über einen Alltag zwischen Alexanderplatz und Friedrichstraße. In diesem Raum geht es auch um die vielen jungen Israelis, die in den vergangenen Jahren von Tel Aviv nach Berlin gezogen sind. Das allerdings ist noch mal eine ganz andere Migrationsgeschichte.

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