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Nach den Wahlen in Sachsen: Wie ein SPD-Bürgermeister in seiner Stadt die AfD kleinhält

In der sächsischen Kleinstadt Augustusburg sitzt die AfD noch nicht mal im Stadtrat. Warum? Das hat viel mit dem Bürgermeister Dirk Neubauer zu tun. Ein Besuch.

Dirk Neubauers Männer kommen mit einem Kleinlaster, im Aufenthaltsraum des Bauhofs berichten sie ihm bei Filterkaffee und Nutellabrötchen: Unter einem Sandkasten haben sie einen lange vermissten Gullieingang entdeckt. Ein Baum ist in einen Zaun gefallen. Eine Wiese soll mit bienenfreundlichen Blumen besät werden. Die Linden am Sportplatz brauchen einen neuen Schnitt.

Neubauer ist im Bilde, spricht über Hebebühnen, planierte Zufahrten und Betonfundamente, fragt nach, treibt die vier Männer von der Stadtpflege an. „Macht doch mal endlich was!“, ruft er und grinst dabei. Nach seinem Amtsantritt als Bürgermeister von Augustusburg hat Dirk Neubauer diese wöchentlichen Treffen eingeführt.

Um den Überblick zu behalten, früh zu erkennen, woran es fehlt. Mit derselben Methode – anderen zuhören, nachfragen, sie ein bisschen antreiben und sich selbst noch ein bisschen mehr kümmern – hat er dazu beigetragen, dass die Sehnsucht nach einer starken AfD in Augustusburg vergleichsweise gering ist. Was die kommunale Ebene angeht. Augustusburg, 4500 Einwohner, ein gleichnamiges Schloss über der Stadt, liegt im Landkreis Mittelsachsen, 16 Kilometer östlich von Chemnitz.

AfD schaffte es nicht in den Stadtrat

Während 30,6 Prozent der Wähler hier bei der Landtagswahl am vergangenen Sonntag für die AfD gestimmt haben – ähnlich viele wie bei der Bundestagswahl 2017 und der Europawahl –, spielt die Partei in Augustusburg keine große Rolle. Sie sitzt nicht im Stadtrat.

Dirk Neubauer: 48 Jahre alt, angegrauter Dreitagebart, Sneaker, enge Jeans, weißes Poloshirt. Er zieht ein letztes Mal an seiner Zigarette, dann geht es weiter. Im kommunalen Kindergarten hat eine Erzieherin 50. Geburtstag. Neubauer will Blumen vorbeibringen.

„Eine Stadt mit Weitsicht“, das ist das Motto des Ortes – nicht zuletzt wegen des Ausblicks, den man vom Schloss ins sächsische Land hat. Über den in der Woche ziemlich leeren Marktplatz gehen zwei Seniorinnen, untergehakt, als Stütze für die jeweils andere. Von hier soll ein Signal ausgehen, wenn es nach Dirk Neubauer geht.

Unerwartet und plötzlich Bürgermeister

2013 wurde Neubauer zum Bürgermeister von Augustusburg gewählt, obwohl er zunächst gar nicht angetreten war. In der ersten Stichwahl zog sich der SPD-Gegenkandidat der CDU-Amtsinhaberin zurück – weil seine Familie bedroht wurde. Neubauer betrieb zu dieser Zeit eine Kaffeerösterei in der Stadt, hatte vorher als Journalist und später in einer IT-Firma gearbeitet, an der er schließlich beteiligt war.

In der Kaffeerösterei bekam er schnell mit, was lief und was nicht. „Das Erste, was ich dachte, war: Schade, wir bleiben unter unseren Möglichkeiten.“ Die Dubiosität der Umstände, unter denen der SPD-Kandidat sich zurückzog, alarmierten ihn. „Das war der letzte Tropfen. Ich dachte, es kann nicht sein, dass so was hier schon wieder passiert, 25 Jahre nach der Wende – dass jemand denkt, er könne hier Einfluss nehmen.“

So wurde er Bürgermeister. Unerwartet, wie er sagt, als Kandidat der Freien Wähler.

Sein Wahlkampf? Bestand vor allem aus Spaziergängen

Und dann noch als Zugereister. Ursprünglich kommt Neubauer aus Halle, wohnte zum Zeitpunkt seiner Wahl seit knapp zehn Jahren in Augustusburg. Sein Wahlkampf? Bestand aus Spaziergängen durch die Stadt. „Ich hab zugehört, mehr habe ich nicht gemacht. Der Wunsch nach Veränderung war groß. Es war ein unglaublicher Gesprächsstau.“

Neubauer steht vor den Kindern, während sie der Erzieherin ein Ständchen singen. Gleich sollen sie essen, also schnell den Blumenstrauß überreichen. „Das sind gute Leute hier“, sagt er beim Rausgehen.

Der kommunale Alltag, die Sorgen und Nöte seiner „Leute“, das ist es, was Neubauer umtreibt. Aber seine Gedanken enden nicht an den Grenzen seiner Stadt. „Mich hat das immer gestört, ich will nicht für den Einzelfall kämpfen.“ Er will zum Beispiel Breitbandinternet.

„Ist aber schwierig für kleine Kommunen wie uns, denn auch wenn das meiste bei Investitionen wie solchen woanders herkommt“ – von Land, Bund und der EU –, „den Eigenanteil müssen wir selber aufbringen.“ Zehn Prozent in diesem Fall, von vor einem Jahr geschätzten 4,7 Millionen Euro. „Ein Vermögen.“ Und ein Risiko, dass er nicht eingehen wollte. Er weiß von Bürgermeisterkollegen, die das nicht aufbringen konnten.

Neubauer schrieb einen Brief, der Bund änderte die Regeln

Neubauer verfasste also einen Brief an Sachsens Landesregierung mit dem Vorschlag, die Eigenanteilsregel doch einmal zu überdenken, informierte Kollegen, viele von ihnen „haben den Brief gleichlautend“, und am Ende bekam Dresdens Staatskanzlei 60-mal Post. 60 Briefe, Neubauers Vorschlag bekam Gewicht, und am Ende erklärte die Landesregierung, die Eigenanteile zu übernehmen.

„Der Bund hat dann auch zugehört“, sagt Neubauer, änderte seinerseits Regeln, „und wir bekamen noch mal über eine Million mehr.“

Besuch bei Pegida

Die Stadt ist seine Basis – von dem, was er hier erlebt, leitet er ab auf Größeres. Er versucht, der Situation im Osten auf den Grund zu gehen, zu verstehen, woher der Zorn seiner Leute kommt, der sich in den Wahlergebnissen der AfD zeigt. „Als Pegida losging und ich mitgekriegt habe, dass Leute aus meiner Stadt hinfahren, bin ich selber hingefahren, weil ich sehen wollte, wer da ist.“

Er fand nicht nur Nazis. „Wir haben extreme Pole rechts und links, und dazwischen viele Leute, die vollkommen unentschieden sind, die wir über Jahrzehnte nicht politisiert haben.“ Auch mit seinem Vater hat er schon oft diskutiert, auch dessen Verletzungen säßen tief. „Und das vererbt sich, die Leute geben den Schmerz weiter. Es war ein blöder Start durch diese unsägliche Treuhand, wir haben die Leute ihres Lebenserfolges beraubt.“

Er höre oft Sachen wie: Die machen den Laden zu. „Ich sage, nee, das macht ihr. Wenn ihr nicht in dem Laden einkaufen geht, macht der zu, das macht nicht die Stadt, das Land, der Papst oder der Weihnachtsmann. Wenn ihr wollt, dass hier was ist, habt ihr einen Anteil dran, und das haben wir den Leuten überhaupt nicht beigebracht.“

Die Verantwortung muss zurück zu den Leuten, sagt Neubauer

Sein Programm, um dieses Phänomen zu bekämpfen, heißt Ermöglichung. „Wir müssen er-mög-li-chen!“, ruft er, mit Betonung auf jeder Silbe des Wortes. Das bedeutet für ihn vor allem: Macht teilen, Verantwortung wieder in die Hände der Leute geben. Ihm geht es auf die Nerven, sagt er, sich mit Verwaltungen herumzuärgern.

„Wenn ich hier einen Stadtrat habe, der etwas einstimmig entscheidet, weil wir alle das Gefühl haben, dass irgendwas für unsere Stadt wichtig ist, fällt die Entscheidung trotzdem in der Sächsischen Aufbaubank“, erklärt Neubauer. „Wenn da einer den Daumen senkt, wird das eben nicht gemacht.“

Das Gefühl, wieder mitentscheiden zu können, wieder Herr der Lage zu sein, ernst genommen zu werden, das wolle er den Bürgern vermitteln. Er tut das durch viel Kommunikation – und das viel digital. Seine Präsenz in den sozialen Medien ist groß, er betreibt einen Blog, ist auf Facebook und Twitter aktiv. Er lädt sich Landespolitiker zu Videogesprächen ein, holt die große Landespolitik ins kleine Augustusburg, spricht mit dem Chef der Staatskanzlei oder dem sächsischen FDP-Chef. „Politiklive“ heißt das Format.

Seit vergangenem Jahr können Bürger der Stadt auf der Internetseite meinaugustusburg.de Projektvorschläge einreichen, über die dann abgestimmt wird. Die Projekte mit den meisten Stimmen werden von der Stadt finanziert, insgesamt stehen 100 000 Euro zur Verfügung.

Vom Sandkasten bis zur Wetterstation – 2018 lief die Kampagne an, Ende des Jahres bekam die Stadt einen Politik-Award, vergeben von einem Fachmagazin und einer privaten Berliner Hochschule. Kategorie: disruptive Kampagne.

Viel Rückenwind habe er bekommen, sagt Neubauer. „Die Leute sehen ja, dass etwas passiert.“

„Herr Neubauer hat eine Aufbruchstimmung ausgelöst“, sagt Matthias Moser, der für die Freien Wähler im Stadtrat sitzt. Auch wenn sich seiner Meinung nach natürlich nicht alle mitgenommen fühlen. Vor allem die ältere Generation habe mit Neubauers Art, viel über die sozialen Medien laufen zu lassen, ihre Probleme. Das gibt auch Stadtrat Gottfried Jubelt zu bedenken. „Die sehen das nicht unbedingt als positive Entwicklung, wobei wir alle Sachen im Stadtrat bereden und beschließen.“

Die Digitalisierung ist Neubauers Lösung

Ohne soziale Medien, ohne Digitalisierung geht bei Neubauer nichts. Aber seine Medienaffinität geht über digitale Kommunikation hinaus. Es ist seine Lösung für gegenwärtige Probleme.

Vom Kindergarten geht es wieder ins Rathaus. Im Konferenzsaal des Gebäudes trifft Neubauer zwei Männer, die ihm helfen sollen. Neubauer will einen digitalen Zwilling für Augustusburg erstellen. „Wir bauen die Prozesse der Stadt digital nach. Kommunikation, Versorgung, Mobilität, Dienstleistung.

Da legt man ein digitales Modell drüber, wo macht eine selbstfahrende Infrastruktur Sinn, wie vernetzen wir Leute. So kann man Veränderung organisieren. Ich hoffe, dass ich den Landkreis mit ins Boot kriege“, sagt er.

Letztens habe nachts das Licht im Rathaus gebrannt, ein Bürger hat sich gemeldet. In Latschen sei er, Neubauer, ins Rathaus mit seinem Zentralschlüssel und habe das Licht ausgemacht. „Das würde ich gerne demnächst mit meinem Handy ausschalten.“

„Wir funktionieren als Gesamtsystem“

Jetzt erklärt er seinen Gästen, was seiner Meinung nach der Standortvorteil Augustusburgs ist: „Hier kann man Dinge ausprobieren, wir funktionieren als Gesamtsystem.“

Die beiden scheinen überzeugt, wollen die Sache aber noch ausweiten. Smart region, nicht nur smart city. „Smart country!“, ruft Neubauer. „Aber es muss jetzt sein.“ 100 Millionen Euro für Digitalisierung – das hat er der SPD, deren Mitglied er mittlerweile ist, ins Wahlprogramm geschrieben, erzählt er.

„Aber wenn wir zwei, drei Jahre weiterschlafen, kommen wir auch damit nicht weiter. Wir dürfen den Moment nicht verpassen.“ Das Modell Augustusburg soll Schule machen. „Wir wollen ein Nukleus sein für generelle Entwicklungen, was wir machen, teilen wir gerne.“

Bei einem Spaziergang im Hof des Schlosses Augustusburg referiert er weiter: „Sachsen ist ein Autoland, 30 Prozent der Jobs in der Automobilindustrie sind durch die digitale Substitution bedroht. Wir kriegen Zustände wie in Nachwendezeiten, wir wiederholen das, was in den 90ern passiert ist, wo schlagartig Tausende Leute freigesetzt wurden, wir müssen doch eine Antwort haben.“

Neubauer weiß, dass er anstrengend sein kann. „Ich bin definitiv nicht einfach.“ Er sagt, das äußere sich auch darin, dass er unbequeme Wahrheiten ausspricht. Dass es eben nicht immer „die da oben sind“, die an allem schuld sind. Dass man als Bürger Verantwortung hat. „Die Leute sitzen hier manchmal wie im Kino. Wenn der Film scheiße ist, wird auf den Filmvorführer gezeigt. Aber die Leute machen den Film.“

Seit einigen Jahren ist Neubauer SPD-Mitglied - das kommt nicht überall an

Dass Neubauer seit einigen Jahren Mitglied in der SPD ist, macht ihm auch nicht nur Freunde. Er sah irgendwann, dass er nicht mehr weiterkam, als Einzelkämpfer in der Provinz. Neubauer wollte ein Netzwerk. Und fand Gefallen an Martin Dulig, Sachsens SPD-Chef.

Inzwischen wurde Neubauer in den Kreistag Mittelsachsen gewählt. „Wer mir positiv gegenübersteht, sagt, der ist zu gut für uns, wer mir negativ gegenübersteht, sagt, ich wäre Karrierist.“ SPD sei da aber immer ein gutes Argument, angesichts von derzeit nicht einmal acht Prozent in Sachsen.

Parteipolitik scheine nicht sein Ding zu sein, erzählt er auf der Terrasse eines Restaurants in Rathausnähe. „Das würde mich auch für den größeren Betrieb untauglich machen.“ Er kenne viele Landtagsabgeordnete, die gar nicht glücklich seien. Und sowieso: Derzeit könne er nicht mal sagen, ob er nächstes Jahr noch mal zur Bürgermeisterwahl antrete.

Aber wirken, über seine Stadt hinaus, das will er schon: Gerade hat er ein Buch geschrieben, „Das Problem sind wir“ heißt es, „Ein Bürgermeister in Sachsen kämpft für die Demokratie“ steht im Untertitel. Im Kleinen mit den Flügeln schlagen und einen Wirbelsturm auslösen, der auch auf überregionale Wahlen Auswirkung hat. „Wir sind eine attraktive Stadt.

Wenn hier eine Situation entsteht, in der wir digitale Strategien entwickeln, kommen Leute – und dann meistens in Gruppen. Digitale Menschen sind selten Einsiedler.“ Aber dafür brauche es auch Schulen und vernünftige Kitas.

Letzter Termin für diesen Tag, es ist 17 Uhr. Aus dem Nachbardorf sind zwei Männer gekommen, es geht um eine Kooperation der Fußballklubs und die Nutzung des neuen Sportplatzes in Augustusburg. Dass ein solcher Energieeinsatz für das Privatleben nicht immer leicht ist, merkt man auch in solchen Momenten.

Seine Frau ist Innenarchitektin, vor zehn Monaten haben sie ein Baby bekommen. Wenn er manchmal sieben Abende am Stück nicht da ist, hängt schon mal der Haussegen schief. „Aber ich kann ihr immer sagen, dass sie mich ja so kennengelernt hat“, sagt er und grinst. „Das nutzt sich nur leider nach einer Weile ab.“ Er selbst sagt, er habe jeden Job so gemacht. Erzählt, dass ihm von einem ehemaligen Chef einmal Hausverbot erteilt wurde. Er sollte Urlaub machen.

Knapp acht Prozent für die SPD: "Ein Schlag mit der flachen Hand"

Den Wahlabend hat er im Dresdner Landtag, in der SPD-Zentrale und dann beim MDR-Fernsehen verbracht. Sicher sei nicht alles gut gelaufen, sagt er. Aber die acht Prozent seien „schon ein Schlag mit der flachen Hand“. Die Schlüsse, die er daraus zieht: Alle Parteien, die Wählerkritik geübt haben, wurden abgestraft. „Wir müssen hinterfragen, woher diese Wut kommt. Nicht, wer auf dieser Wutwelle reitet. Das produziert noch mehr Wut und spaltet das Land.“

Dirk Neubauer will seinen Leuten zeigen, dass Lösungen bei der AfD nicht zu finden sind. Er ist überzeugt: Zukunft macht man aus Mut und Teilhabe.

Und da ist sie wieder: die Ermöglichung! „Der Landtag muss damit beginnen, die Macht an die Bürger zurückzugeben. Nur wer entscheiden und mitwirken kann, kann auch begreifen, das Demokratie keine leere Hülle ist.“

Fünf Jahre, weiß er, in denen man beweisen muss, dass es keinen rechtsnationalen Umsturz braucht, um Probleme zu lösen.

Und was bedeutet das für seine persönliche Zukunft? Die Entscheidung, ob er nochmals antreten wolle, sagt er, sei noch nicht gefallen.

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