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Die Golden Gorkis sind keine Anfänger, viele von ihnen begleitet die Liebe zum Theater schon lange.

© Ute Langkafel/Maifoto

Seniorenensemble am Maxim-Gorki-Theater: Wie das Leben spielt

Wer mitmachen will, der muss vor allem eines sein: über 60. Spannende Biografie – gern erwünscht. Am Berliner Maxim-Gorki-Theater hat sich das Ensemble der Senioren etabliert.

Zu Liz sagte er: „Du trägst den Ring des Universums an elf von deinen zehn Fingern!“ Für solche Sätze ihres Regisseurs steigt Elisabeth Schmidt mit der schweren Arthrose in den Knien bis in den Probenraum im zweiten Stock. Nirgends fühlt sie sich lebendiger als auf der Bühne.

Im Mai hat „Bilder aus Nichts“ am Berliner Maxim-Gorki-Theater Premiere.

Wenn Elisabeth Schmidt eine Pause braucht, fordert sie vorbeieilende Schauspieler des Erstensembles auf, das dicke rosa Buch in ihrer Hand aufzuschlagen, an irgendeiner Stelle, völlig freie Wahl. „Große Dinge werden geschehen“, liest sie einem jungen Mann mit tiefer Prophetenstimme vor. Das glaubt sie auch. Das dicke rosa Buch heißt „Das kleine Flirt-Orakel“ und ist Elisabeth Schmidts Hauptrequisit.

Nur wenige Theater haben wie das „Gorki“ ein eigenes Seniorenensemble. Wer hier mitmachen will, muss vor allem eins sein: über 60.

„Der Mensch spielt nur, wo er ganz Mensch ist, und er ist nur ganz Mensch, wo er spielt.“ Schiller. Genauso ist das, das wissen hier alle. Die vollkommenste Form des Homo sapiens ist der Homo ludens, der spielende Mensch, und das gilt auch im Alter. Es lohnt, den „Golden Gorkis“ zuzuschauen, sie sind keine Anfänger. Ihr neues Stück handelt vom Aufhören. Grundfrage: Wer werde ich gewesen sein?

Oben hat die Probe begonnen. Eine frühere Verlagslektorin durchquert Sterne, nein, Äpfel pflückend den Raum. Die Arme des Mannes in der Fleeceweste am Fenster formen eine einfache und doch unendlich filigrane, zärtliche Bewegung. Da ist nichts in seiner Hand, und doch versteht man sofort: Es ist ein Cello. Das ganze Leben, verdichtet in einer einzigen Geste. Jeder musste seine eigene finden.

Alle hier haben, was den Jungen fehlt: eine richtige Biografie. Das müssen wir ausnutzen, beschloss Regisseur Ron Rosenberg.

Elisabeth Schmidt mischt sich unter die Spieler. „Ihr seid Traumfiguren, verwehbar!“, ruft der melancholisch begabte Regisseur mit den großen dunklen Augen. Rosenberg ist bei Weitem der Jüngste im Raum. Die Regie ist einer der letzten allgemein anerkannten Rückzugsorte für Diktatoren. Ältere Menschen schätzen jüngere an solchen Plätzen gemeinhin wenig, aber hier scheint alles anders zu sein. Ron Rosenberg, geboren und aufgewachsen bei Zürich, 42 Jahre alt, trägt ein graues, vertrödeltes Polokapuzenshirt mit einem springenden Panther vorn drauf. Dieses Outfit ist gewiss kein Zufall. Er ist zwar sanft, aber sehr wachsam.

Alles begann mit dem "Urfaust"

Elisabeth Schmidt setzt sich eine bunte Flitter-Krone auf den Kopf, trägt das „Kleine Flirtorakel“ als Monstranz vor sich her und beginnt, wie eine Prophetin durch den Raum zu schreiten. Mögen die anderen zurückschauen, sie schaut nach vorn. Das Nach-vorn-Schauen ist die Grundgeste ihres Lebens. Basta.

„Buch weg, Buch weg, Liz“, ruft der Regisseur, „das lenkt dich nur ab! Du musst das Manna vom Himmel ziehen! Hände heben und ziehen, kräftig ziiiehen, ziiiehen!“ Ron Rosenberg macht es vor. Mit einem deutlichen Ausdruck der Unfreiwilligkeit legt die Aufgeforderte das „Kleine Flirt-Orakel“ zur Seite, und doch: Gibt es eine befriedigendere, erfüllendere Arbeit, als das Manna vom Himmel zu ziehen? Auch das hat sie ihr Leben lang gemacht, in immer neuen Berufen, und dafür braucht man beide Hände.

Alles begann mit dem „Urfaust“ 2008. Damals besetzte die Regie Gretchens einzige Vertraute Marthe Schwerdtlein gleich 13 Mal: mit Laiendarstellerinnen, gern etwas älter. Marthe Schwerdtlein ist das Weib als solches, den unsteten Blick stets auf das Nächstliegende gerichtet, Verkörperung der kupplerischen Weltsicht. Einzig Mephisto war dieser Frau gewachsen. Als er ihr ausrichtet: „Ihr Mann ist tot und lässt Sie grüßen“, ist selbst Marthe Schwerdtlein einen Augenblick lang sprachlos.

Eine letzte Vorstellung, dann, wenn ein Stück vom Spielplan genommen wird, ist immer ein verstörender Moment im Leben eines Schauspielers. Als lasse er einen Teil seines Lebens zurück. So ging es auch den 13 Marthe Schwerdtleins. Wir wollen weitermachen, wir wollen zusammenbleiben, dachten sie. Die Dramaturgie des Gorki-Theaters fand das gut, insbesondere der unscheinbare Typ, der immer notizenmachend in irgendeiner Ecke der Kantine saß und den Ortsfremde für einen leicht fehlprogrammierten Bühnenarbeiter hielten. War er aber nicht, es war der damalige Intendant und Stückeschreiber Armin Petras. Dass die „Golden Gorkis“ öfter im Hauptrepertoire mitspielen würden, gewissermaßen als multiple Marthe Schwerdtlein, war die Gründungsidee. Eine zunehmend vernachlässigte.

Manchmal beneidet er die Alten

2013 ist Ron Rosenberg zu den „Golden Gorkis“ gekommen. Er hat den leicht resignativen Gesichtsausdruck von Menschen, die wissen, dass ihr Leben in keinen Fragebogen passt. Allein wie er zum Theater fand, ist schwer mitteilbar. Ron Rosenberg versucht es trotzdem, zwei Tage nach dieser Probe, in einem Café beim S-Bahnhof Greifswalder Straße: „Ich saß mit meiner Schulklasse im Zürcher Schauspielhaus in der ,Dreigroschenoper‘. Mit großen Kopfhörern über den Ohren. Es waren, glaube ich, die Beastie Boys.“ Nein, er wollte nichts hören. Nichts hören und nichts sehen von dem, was die Leute hören und sehen, die gewöhnlich das Zürcher Schauspielhaus besuchen.

Doch dann gab der Akku auf, nur Minuten nach Vorstellungsbeginn, und Ron Rosenberg war Brechts „Dreigroschenoper“ vollkommen ausgeliefert. Dieser Tag änderte sein Leben.

Manchmal beneidet er die Alten. Er könnte ihnen endlos zuhören. Auch darum macht er mit ihnen Theater. Theater handelt von dem, was Menschen mit Menschen teilen können: ihre Erfahrungen. Die Alten hatten es zwar schwerer, aber leichter. So wie sein Vater, der 1968 in einem VW-Bus ohne eine einzige Grenzkontrolle von Basel bis nach Jerusalem fuhr. Das verdankte er dem großen Schweizer Kreuz auf dem Bus und dem Blaulicht obendrauf. Kein Mensch konnte ein weißes Schweizer Kreuz auf rotem Untergrund so schnell von einem rotem Kreuz auf weißem Untergrund unterscheiden. Und dann traf Heinz Rosenberg, Sohn eines nach Zürich zugewanderten Juden aus Czernowitz, in Tel Aviv eine Jüdin aus Bagdad mit Vorleben in New York, und das gleich für immer. „Ich bin das Kind dieser Leute“, sagt Ron Rosenberg in einem leicht desillusionierten Tonfall, der klarmacht, dass einfache, gerade Wege für ihn nicht vorgesehen sind.

Manchmal erinnert ihn Bernd Ocker an seinen Vater. Ocker, 72 Jahre alt, die Startnummer 16 025 des Berlin-Marathons von 2014, macht sich schon warm für den letzten Lauf seines Lebens, seinen Lebens-Lauf. Als Performance. Alle dürfen zuschauen und kritisieren. Aber Elisabeth Schmidt packt das „Flirt-Orakel“ ein und zieht ihren Mantel an. Sie will noch einen Gartenschlauch kaufen. Den Einwand, dass sie das auch morgen machen könne, lässt sie nicht gelten. „Ein Sonderangebot“, raunt sie und greift beherzt nach ihren Gehhilfen.

Nein, sie muss nicht jedes Mal dabei sein, wenn die Startnummer 16 025 des Berlin-Marathons einen Monolog hält. Das ist nicht gut für ihre Arthrose. Wie viele Medaillen der schon gewonnen hat! Sie weiß genau, wie das anfangen wird: „Ich muss auf den Atem der Nachbarn achten, als Starter aus den hinteren Reihen! Und dann überholen, einen nach dem anderen, ein tolles Gefühl.“ Hat sich extra ein Laufband mitgebracht.

Bernd Ocker hat das Theater schon immer geliebt. Mit 17 Jahren meldete sich der Krefelder zur Bundeswehr. „Nehmen die jetzt schon Kinder?“, fragte fassungslos sein Vater, der 1940 aus der Wehrmacht desertiert war. Der minderjährige Freiwillige schaute ihn mit großen Rätselaugen an. Das war im April 1965.

Fremden Lebensgeschichten endlos zuhören

Bernd Ocker wollte gar nicht zur Bundeswehr, sondern zum Theater. Aber das hätte sein Vater nie zugelassen; die Armee war der einzige Weg, aus Krefeld rauszukommen. Er würde sich ausmustern lassen, wegen Unfähigkeit, und bis dahin würde er lesen, und zwar die ganze Theater-Weltliteratur. Ockers Ausbildungsort war der Nato-Luftwaffenstützpunkt im holländischen Budel. „Ich hatte einen ganzen Koffer voller Munition mit“, sagt Ocker: Schopenhauer, Goethes „Faust“, Schillers Gesammelte Werke und viele andere. Fatalerweise ging der Koffer des Soldaten Schwejk-Ocker noch auf dem Bahnsteig auf, und heraus fielen Schopenhauer, Goethes „Faust“ … – „Ja, was glauben Sie eigentlich, wo Sie jetzt hinfahren? In den Urlaub?“, brüllte ein Offizier ihm ins Gesicht. Vielleicht beschloss der derart Befragte schon damals, Leute wie diesen Offizier das Fürchten zu lehren.

Ocker baut sein Laufband draußen neben der Gorki-Raucherinsel auf. Vielleicht könnte man aus seinem Part einen Outdoor-Monolog machen? Die Raucherinsel draußen hinter der Studiobühne sieht aus wie ein degeneriertes Hawaii: Kunstpalme, Kunstblüten, Kunstrasen, Schilfdach, Clubtisch.

Dass er fremden Lebensgeschichten endlos zuhören kann, merkte Ron Rosenberg zum ersten Mal während seines Zivildienstes in der Sankt Gallener Klinik Am Rosenberg. Am Rosenberg, ausgerechnet! Dann wurde er Regieassistent an den Theatern von Bern, Brüssel und Zürich, schließlich nahm ihn die Berliner Ernst-Busch-Schauspielschule im Studiengang Regie.

Besser konnte es gar nicht kommen, und doch war es ein Unglück. Seine Auffassungen und die seiner Lehrer erwiesen sich als tendenziell unvereinbar. Trotzdem wusste er immer, dass er es durchziehen würde. Doch die Schule feuerte ihn kurz vor dem Diplom, nachdem sie drei seiner Regiekonzeptionen abgelehnt hatte. „Ich sah über Wochen nur noch die Champions League“, wird er nachher sagen. Es gab keinen Grund mehr aufzustehen, es gab keinen Grund mehr, überhaupt noch irgendetwas zu tun.

Rosenberg sieht Bernd Ocker zu. Ist der nicht sein Leben lang von Sieg zu Sieg gelaufen? Ocker, der Miterfinder des linken Theaters in West-Berlin, der Mann in der zweiten oder dritten Reihe hinter Rudi Dutschke, mit fast sechzig Jahren noch als „Geher“ entdeckt und so schon seit Jahren von einer Medaille zur nächsten eilend, Europameisterschaften inklusive.

Geschichten wie fürs Theater geschrieben

Ocker erklärt gerade, dass jeder Lauf auch ein Vorlaufen in den Tod sei. Heidegger. „Ich könnte mir am Ende die Schuhe ausziehen, ich werde sie doch nie wieder brauchen“, schlägt Ocker vor. O Gott, ist das traurig! Ein stummer Seufzer steht in den Augen der Nachfahrinnen Marthe Schwerdtleins, die das weiß-orange Absperrband halten und bis eben „Go, Ocker, go!“ gerufen hatten. Aber der Medaillengeher ist zu sehr Theatermann, um das zu bemerken.

Ocker rennt. Alles entschied sich, als der minderjährige künftige Pilot noch im Frühjahr 1965 in Budel einem holländischen Augenarzt gegenüberstand, denn der Nato-Stützpunkt besaß keinen. Der Holländer fragte, vielleicht angesichts Ockers schockierender Jugend: „Was wollen Sie bei der Bundeswehr?“ Es war nicht lange her, dass die SS die gesamte männliche Bevölkerung Budels ermordet hatte. „Ich will doch gar nicht zur Bundeswehr, ich will zur Schauspielschule!“, antwortete der Rekrut.

Als der alte Arzt verstand, sagte er: „Ich glaube, da kann ich helfen!“ Und er bescheinigte Ocker-Schwejk eine Sehkraft, die ihn militärisch untragbar und zur ständigen Gefahr für seine Kameraden machte.

Manche Lebensgeschichten wirken, als wären sie für das Theater geschrieben. Die Bühne liebt Auferstehungen zu Lebzeiten.

Ron Rosenberg verdankt seine Auferweckung von den Beinahe-Toten dem ostdeutschen Literaturwissenschaftler Frank Hörnigk. Sie trafen sich in ihrer gemeinsamen Liebe zu Büchner, zu Heiner Müller. Und ebenso wie der alte Holländer mehr war als ein Arzt, war Hörnigk mehr als ein Literaturwissenschaftler. Er war ein Ermutiger.

Als dann der Anruf kam, ob er sich vorstellen könne, eine Kindertheatergruppe zu leiten, sagte Ron Rosenberg einfach Ja. Und als das Gorki-Theater fragte, er habe doch so gut mit Kindern gearbeitet, ob er sich nicht vorstellen könne, das auch mit Alten zu machen, sagte er wieder Ja.

Über eine Stunde lang gibt Ocker alles draußen auf der Gorki-Raucherinsel unter der Kunstpalme neben den Aschenbechern. Und dann folgt die Auswertung. „Weißt du, Bernd“, sagt der Regisseur langsam, „ich glaube, wir machen es doch besser drinnen.“ Wie desillusionierend. Doch Ocker antwortet gefasst: „Ich glaube, du hast recht!“

Der lebenslange Achtundsechziger aber muss noch zur Jahresversammlung des Polizeisportvereins, der sein Talent entdeckt hatte. „Ich im Polizeisportverein! Unfassbar“, murmelt er.

Auf Ron Rosenberg warten schon seine Theaterkinder. Die Frau mit dem Ring des Universums an elf ihrer zehn Finger hat den Gartenschlauch ihrer Träume noch bekommen.

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