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Blicke in die Welt von morgen zeigen fast immer düstere Szenarien. Weil die längst am plausibelsten sind?

© imago images / Marius Schwarz

Von Atwood bis Netflix: Es lebe das Untergangsszenario!

In Büchern und Filmen bewegt sich die Gegenwart im Dauerschatten eines Worst-Case-Szenarios. Dystopie wird so allmählich zum Lebensgefühl. Eine Kolumne.

Eine Kolumne von Max Tholl

Eigentlich hat sich Margaret Atwood ein anderes Ende für ihre “Mägde” gewünscht. Wie die kanadische Starautorin jüngst in einem Interview verriet, sieht sie den fortwhärenden Erfolg ihres Kultbuches “Report der Magd” kritisch. Atwood verfasste den Roman Anfang der 1980er-Jahre, als die ultrareligiöse Rechte unter Ronald Reagan in Amerika erstarkte, und im Schatten der Berliner Mauer und den Repressalien hinter dieser. Die Kulisse des Buches bildet die fiktive Theokratie Gilead, die in einer nicht allzu weit entfernten Zukunft die USA abgelöst hat, und in der Frauen den Herrschern als reine Geburtsmaschinen dienen müssen. 

Auf den andauernden Erfolg des Buches angesprochen, gab die Grande Dame des Literaturbetriebs nun zu verstehen, sie wünschte, das Buch hätte irgendwann an Relevanz und Popularität verloren. Stattdessen veröffentlichte sie Anfang des Monats nach 35 Jahren mit “Die Zeuginnen” den Nachfolger und die Literatursensation des Jahres. Dass der Kult um Atwoods Roman sich in den vergangenen Jahren noch einmal deutlich verstärkt hat, liegt nicht nur an der gleichnamigen TV-Serie, sondern vor allem an der politischen Realität, die sich Atwoods Fiktion annähert, und sie von der Dringlichkeit einer Fortsetzung überzeugte. 

Nach der Trump-Wahl boomten Orwell und Huxley

Insbesondere die Präsidentschaft von Donald Trump hat der Dystopie als fiktionales Genre ordentlich Auftrieb verpasst und die Nachfrage angekurbelt. Die Verkaufszahlen von George Orwells Klassiker “1984” stiegen in dem Monat nach Trumps Amtsantritt um satte 9500 Prozent. Auch andere dystopische Erzählungen wie Aldous Huxleys “Schöne neue Welt” oder Ray Bradburys “Fahrenheit 451” waren binnen Wochen restlos ausverkauft. Die Kluft von Atwoods Mägden ist längst zum Protestsymbol gegen die misogyne Politik der US-Republikaner avanciert. 

Die Dystopie ist seit jeher ein Seismograph der gesellschaftlichen Ängste und antizipiert drohende Horrorszenarien. Ob totalitäre Diktaturen, nukleare Auslöschungskriege, Umweltdesaster oder Herrschaft der Roboter - es geht jeweils um eine Zukunft, die realistisch genug scheint, um Realität zu werden, aber unwahrscheinlich genug ist, um den Schein der Fiktion zu wahren. Doch diese Grenzen verschwimmen zunehmend, die Fakten überholen die Fiktion. Die Gegenwart ist nicht mehr die Vorgeschichte der Dystopie, sondern hat sie gewissermaßen ersetzt. Erleben wir ein post-dystopisches Zeitalter?

Für die kürzlich verstorbene ungarische Philosophin Agnes Heller war die Dystopie immer schon progressiver als die Utopie, denn die Warnung sei schließlich konkreter als die Träumerei. Geprägt vom Stalinimsus glaubte sie, dass utopische Zukunftsvisionen nur im Chaos und die Vorstellung eines gerechten Staates nur im Totalitarismus enden können. Heller beschrieb die Dystopie als Einsicht, dass die Gegenwart und Zukunft keine Sicherheit liefern und keine Garantien verlangt werden können. Vielmehr sei die Dystopie eine “Utopie der Verantwortlichkeit als Zivilcourage” - ein Aufruf zum Aktionismus, wehret den Anfängen! Lange wurde die Dystopie als Fiktion des Widerstands gegen die gegenwärtigen Missstände begriffen. 

Nicht in Zukunft, sondern in einer Parallel-Gegenwart

Der amerikanischen Historikerin Jill Lepore zufolge ist sie heute aber zur Fiktion der Hilflosigkeit verkommen, die nur noch mehr Verzweiflung und “radikalen Pessimismus” sät. Angst lähmt, klar, aber kann sie nicht immer noch Motivator sein? Sind nicht gerade die feministischen Protestmärsche der “Mägde” ein Zeichen dafür, dass die Dystopie noch immer gesellschaftlichen Wandel vorantreiben kann?

Gerade heute brauchen wir Dystopien mehr denn je, nicht als erschreckende Zukunftsvision, sondern als Spiegel der Realität. Das digitale Projekt “Dystopia Tracker” sammelt die düsteren Zukunftsprognosen aus Büchern und Filmen, und überprüft (wenn auch nicht ganz ernst gemeint), welche davon schon Realität geworden sind. Es offenbart, dass das Zeitfenster zwischen Prophezeiung und Alltag kleiner wird.

Heutige fiktionale Dystopien wie die Netflix-Serie “Black Mirror”, die Romane “Der Circle”, “Red Clocks”, oder die düstere Komödie “The Lobster” sind nicht in einer fernen Zukunft angesiedelt, sondern in einer Parallel-Realität. Neben dem typischen “Es ist noch nicht passiert, aber es könnte noch passieren”, wird hier auch ein “Es hätte auch schon passieren können” postuliert. Die Gegenwart bewegt sich im Schatten eines konstanten Worst-Case-Szenarios. 

Es passt zum Alarmmodus der heutigen Gesellschaft, die jede Herausforderung zur Krise hochstilisiert: Klimakrise, Migrationskrise, Finanzkrise, Populismuskrise. Die Dystopie wird so allmählich zum Lebensgefühl und die Endzeit zur Jetztzeit. Das spiegelt sich nicht nur in der Fiktion wieder, sondern vor allem in der Sachliteratur. Unzählige Bücher dokumentieren das Sterben der Demokratie und den Niedergang des Rechtsstaates. Die Politologen Steven Levitsky und Daniel Ziblatt schildern in ihrem Buch “Wie Demokratien sterben” die Aushöhlung demokratischer Prozesse, und erzählen vom um sich greifenden Autoritarismus.

Die wahre Apokalypse kommt schleichend daher

NetzkritikerInnen wie Jaron Lanier oder Shoshana Zuboff warnen in ihren Büchern vor dem Zeitalter des digitalen Überwachungskapitalismus und der Allmacht von Big Tech. Der amerikanische Journalist David Wallace-Wells hat kürzlich mit seinem Bestseller “Die unbewohnbare Erde” schon ein Standardwerk des rasch wachsenden Ökozid-Genres vorgelegt. Diese Bücher warnen zwar vor drohenden Katastrophen, aber siedeln ihren Schrecken in der Gegenwart an: Das Unheil ist bereits passiert, es muss nun eingedämmt oder rückgängig gemacht werden.

Gerade bei der Klimathematik findet der Topos der Apokalypse Verwendung, und schafft es, wissenschaftlich untermauert, in das kollektive Bewusstsein. Die von Greta Thunberg geforderte Panik greift um sich. Kritiker verschreien sie als Klima-Hysterie, während die Anzahl an klimabedingten Angststörungen zunimmt. Statt die Resignation zu fördern, kann die Dystopie aber auch als Kognitive Verhaltenstherapie fürs Kollektiv dienen - eine Konfrontation mit unseren Ängsten, die optimalerweise zum Bewusstseinswandel führt. Diese ist nötig, denn es ist schwer geworden optimistisch in die Zukunft zu blicken. Die Utopien der Vergangenheit, wie das freie Internet, die pluralistische Gesellschaft oder das grenzenlose Wirtschaftswachstum, haben sich als trojanische Pferde entpuppt, die die Probleme der Gegenwart in sich trugen. 

Die fiktionalen Dystopien aus Hollywood oder aus der Feder von Orwell, Huxley und Atwood haben uns darauf konditioniert, die Apokalypse oder den point of no return als singuläres Ereignis biblischen Ausmaßes zu begreifen, nicht als schleichenden Prozess. Die erschreckendste Dystopie kündigt sich aber nicht mit flammen- und funkensprühendem Showdown an. Sie ist so banal und alltäglich, dass man glatt übersehen könnte, dass sie längst begonnen hat. 

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