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Erinnert. Fadwa Mahmoud, Mitte, demonstriert mit anderen Frauen in ganz Europa, um auf das Schicksal der Verschwundenen hinzuweisen.

© Dylan Collins

Verschwunden in Damaskus: Wie eine Syrerin von Berlin aus ihre Familie sucht

Fadwa Mahmoud ist eine von unzähligen Frauen aus Syrien, deren Familien verschwunden sind. Eine Geschichte von einem Leben in Ungewissheit.

Von Muhamad Abdi

Auf der Couch in einer Neuköllner Wohnung spielt Fadwa Mahmoud mit ihrer Katze. „Meine beste Freundin“, sagt sie. Sie braucht die Katze. Das Tier ist ihr Mittel gegen die Einsamkeit.

Fadwa Mahmoud atmet tief durch und versucht, nicht zu weinen, bevor sie ihre Geschichte erzählt. Seit 2012 hat sie nichts von ihrem Mann und ihrem Sohn gehört. Damals sind die beiden am Flughafen Damaskus verschwunden. Seitdem hat sie alles getan, um etwas über ihre Familie zu erfahren. Vergeblich.

Das letzte Mal, als die 63-Jährige die Stimme ihres Sohnes Maher hörte, stand sie in der Küche ihrer Wohnung in der syrischen Hauptstadt, das weiß sie noch ganz genau. Ursprünglich hatte sie geplant, mit ihm zum Flughafen zu fahren, um ihren Mann abzuholen. Doch dann entschied sie spontan, zu Hause zu bleiben und das Mittagessen zuzubereiten. Mahashi, mit Fleisch und Reis gefülltes Gemüse sollte es geben, das mochten Vater und Sohn besonders gern. Es war der 20. September 2012.

Seither lebt Fadwa Mahmoud in der Hoffnung, dass ihre Familie noch am Leben ist. Ihr Mann Abdulaziz al Khair war seit den 90er Jahren als Politiker aktiv gewesen. An jenem 20. September kehrte er gerade von einer Konferenz aus China nach Damaskus zurück. Vom Flughafen aus rief der Sohn seine Mutter an und sagte: „Papa und ich sind jetzt zusammen und fahren gleich nach Hause.“ Sieben Minuten später versuchte Fadwa Mahmoud erneut, ihren Sohn zu kontaktieren. „Ich hatte plötzlich das Gefühl, dass es ihnen nicht gut geht“, sagt sie heute. Doch seine Nummer war nicht mehr erreichbar. Das sollte so bleiben. „Wenn er seinen Vater nicht vom Flughafen abgeholt hätte, wäre er jetzt vielleicht noch bei mir.“

Ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit

Tausende syrische Familien teilen Fadwa Mahmouds Schicksal: Auch ihre Angehörigen sind einfach verschwunden. Amnesty International dokumentiert dieses systematische Verschwindenlassen von Menschen durch die syrischen Geheimdienste seit 2011. Anfänglich ließ die Regierung Demonstranten, Aktivisten, Journalisten, Ärzte und humanitäre Helfer verschwinden. Später wurden auch Angehörige von Oppositionellen Opfer des Verschwindenlassens - so wie Fadwa Mahmouds Sohn Maher.

Wie schon die lateinamerikanischen Militärdiktaturen der 1970er und 80er Jahre - damals sprach man von Desaparecidos, Verschwundenen - nutzt das syrische Regime gezielt diese Taktik, um politische Gegner auszuschalten. Inzwischen ist solches Verschwindenlassen als Verbrechen gegen die Menschlichkeit definiert und kann vor dem Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag verfolgt werden. Charakteristisch für den Tatbestand ist es, die Angehörigen in einem quälenden Zustand der Unwissenheit zu halten. Nach Angaben von Amnesty International hat die syrische Regierung erst in den vergangenen Monaten damit begonnen, Totenscheine von hunderten Inhaftierten an die Bürgerämter zu schicken. Manche sind schon vor Jahren gestorben, oft aufgrund von Folter in Gefängnissen. Ihre Leichname bekommen die Angehörigen nicht.

In der Küche ihrer Neuköllner Wohnung raucht Fadwa Mahmoud eine Zigarette und bereitet schwarzen Tee zu. Sie wird jetzt noch lange von der Entführung ihrer Familie erzählen. Damals habe sie vier Stunden zu Hause gesessen und gewartet. Schließlich konnte sie nicht weiter ausharren und fing an, Bekannte anzurufen. Niemand wusste etwas.

„Die Welt sollte sie nicht vergessen.

Am nächsten Tag suchte sie den russischen Botschafter in Damaskus auf. Sie habe seinem Land die Schuld gegeben, erzählt sie, weil Russland zu dieser Zeit in Syrien die Sicherheit der Regimegegner garantierte. In wenigen Tagen sollte eine Verhandlung zwischen der Regierung und Oppositionellen in Damaskus stattfinden - unterstützt von Russland. Und Abdulaziz al Khair sollte an eben dieser Verhandlung teilnehmen.

Ausgerechnet drei Tage zuvor ist er verschwunden. „Der Botschafter reagierte gefühllos“, erinnert sich Fadwa Mahmoud jetzt in ihrer engen Zweizimmerwohnung.

Ihre Suche führte sie damals außerdem zum „Staatsminister für nationale Versöhnungsangelegenheiten“, den die Regierung nach 2011 eingesetzt hatte. Er habe ihr versichert: „Ihr Mann und Ihr Sohn sind nicht bei uns. Falls doch, werde ich Ihnen bis zum nächsten Sonntag Bescheid geben.“

Dieser Sonntag ist für Fadwa Mahmoud bis heute nicht gekommen. „Die Regierung sagt immer noch, sie wisse nicht, wo mein Mann und mein Sohn sind, obwohl ich aus verschiedenen Quellen erfahren habe, dass sie vom Geheimdienst der Luftwaffe verhaftet wurden.“ Woher sie das weiß, kann sie nicht laut sagen, weil sie fürchtet, ihre Informanten damit in Gefahr zu bringen.

2013 beschloss Fadwa Mahmoud, über Beirut zu fliehen, da sie sich daheim von Männern der Regierung beobachtet fühlte. Doch auch im Libanon wurde sie verfolgt. Seit 2015 lebt sie deshalb in Berlin und kämpft von hier aus weiter. Auf ihrem Schreibtisch liegen Broschüren von „Families for Freedom“. Die Organisation hat sie 2017 mit anderen Frauen zusammen gegründet, um auf die Verschwundenen aufmerksam zu machen. „Die Welt sollte sie nicht vergessen.“

Nur die Hoffnung macht sie stark

Erinnert. Fadwa Mahmoud, Mitte, demonstriert mit anderen Frauen in ganz Europa, um auf das Schicksal der Verschwundenen hinzuweisen.
Erinnert. Fadwa Mahmoud, Mitte, demonstriert mit anderen Frauen in ganz Europa, um auf das Schicksal der Verschwundenen hinzuweisen.

© Dylan Collins

Auf der Homepage von Fadwa Mahmouds Organisation erfährt man deshalb Grundlegendes über Gefängnisse in Syrien. Zum Beispiel, dass dort weiterhin Zehntausende Kinder festgehalten werden, einige ganz allein. Dass Schwangere ihre Kinder im Gefängnis gebären. Dass manche Babys noch nie den Himmel gesehen haben. Und noch nie einen Vogel. Es gibt auch Kinder, die unter Folter gestorben sind, und deren Angehörige sie nicht beerdigen dürfen.

Viele ihrer Bekannten glauben, dass Fadwa Mahmoud verrückt geworden ist. Weil sie durch ganz Europa reist, um herauszufinden, was mit ihrer Familie passiert ist. Die Leute sagen: „Glaubt diese Frau wirklich, dass sie nach all dieser Zeit noch leben?“ In der Neuköllner Wohnung kommen Fadwa Mahmoud nun doch die Tränen. „Mein Gefühl sagt mir, dass sie noch am Leben sind. Nur die Hoffnung macht mich stark, um weiter für sie zu kämpfen“.

So wie an jenem kalten Abend im vergangenen Dezember. In der Nähe des Brandenburger Tors organisiert die Vertretung der Europäischen Kommission eine Veranstaltung zu den Verschwundenen. Auch Fadwa Mahmoud ist da und etwa 70 weitere Menschen. Sie steht auf der Bühne, das Mikrofon fest umklammert, hinter ihr die Flagge der Europäischen Union. Mit lauter Stimme erzählt sie ihre Geschichte. Danach berichten weitere Frauen, wen sie vermissen. Sie wollen nicht nur ihre Männer, Söhne und Brüder zurück. Sie wollen auch Gerechtigkeit, wollen, dass die Verantwortlichen der syrischen Regierung vor Gericht gestellt werden.

Auch einige der Täter sind nach Europa geflohen

In diesem Kampf sind die Frauen um Fadwa Mahmoud nicht allein. Der syrische Menschenrechtsanwalt Anwar al Bunni arbeitet bis spätabends in einem Sechs-Quadratmeter-Büro in Prenzlauer Berg daran. Die Wände sind dicht mit Bildern der Verschwundenen behängt, Ordner voll englischer, arabischer und deutscher Dokumente türmen sich neben ihm. Auch der 60-jährige al Bunni hat einst syrische Gefängnismauern von innen gesehen. Sechs Jahre lang war er wegen seiner politischen Arbeit als Anwalt inhaftiert, viele seiner Familienmitglieder ebenfalls. Im Ausland gewann er Preise für sein Engagement, 2014 holte ihn das Auswärtige Amt nach Deutschland.

Seitdem setzt sich al Bunni von Europa aus dafür ein, die ungestraften Morde durch das syrische Regime zu untersuchen. Von Madrid bis Stockholm sammelt er Fälle von Verschwundenen. Sie zu beweisen sei schwer, erzählt er in seinem Büro, denn die Opfer hätten oft Angst, auszusagen. Aus Sorge um die Verbliebenen in Syrien und aus Sorge um ihre Sicherheit in Europa. Denn auch einige der Täter sind hierher geflohen. Etwa 1000 von ihnen, schätzt al Bunni, leben in Deutschland. „Gerechtigkeit in Syrien zu verwirklichen ist nicht nur für Syrien wichtig. Ein friedliches Syrien schützt auch Europa vor weiteren Flüchtlingskrisen.“

Al Bunni erinnert sich an das Leben im Gefängnis. „Es ist immer düster. Man fragt sich: Gibt es irgendwo jemanden, der ahnt, was ich erleide? Gibt es jemanden, der sich vorstellen kann, wie mein Leben aussieht? Gibt es jemanden, der mich erhört, damit ich meine Freiheit wiedergewinne?“ Al Bunnis Stimme wird jetzt energisch. „Egal, wie oft man einen Häftling foltert, schlägt, ihn nicht einschlafen lässt. Diese eine Sache hat er immer im Sinn: ob jemand versucht, ihn zu befreien.“

In Deutschland gilt das Weltrechtsprinzip

In Europa fahndet al Bunni nach kleinsten Hinweisen auf die Verbrecher. Er befragt Zeugen wie Fadwa Mahmoud oder ehemalige Insassen. Vielleicht erinnert sich einer an den zuständigen General oder seinen Entführer. Er korrespondiert mit der „International Commission on Missing Persons“. Er arbeitet mit Partnern wie dem Europäischen Zentrum für Verfassung und Menschenrechte, mit Organisationen in Frankreich, Österreich, Schweden und Spanien zusammen. Sein Einsatz ist nur möglich, weil Stiftungen und private Spender ihn unterstützen. Dann teilt al Bunni seine Informationen mit NGOs wie dem Berliner ECCHR e.V., die solche Fälle vor deutsche Gerichte bringen.

Denn Deutschland ist eines von wenigen Ländern, wo das sogenannte Weltrechtsprinzip gilt: Hier kann Tätern von Kriegsverbrechen, Genozid oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit der Prozess gemacht werden. Auch, wenn die Tat weder in Deutschland geschehen ist, noch Täter oder Opfer deutsche Staatsbürger sind. Auf diese Weise können syrische Kriegsverbrecher vor deutschen Gerichten verurteilt werden. „Wir arbeiten derzeit an vielen Fällen. In vier davon konnten wir Strafanzeige gegen hochrangige Mitglieder der syrischen Geheimdienste einreichen.“

Einen Krieg zu finanzieren, kostet viel Geld, weshalb Bashar al-Assads Regime versucht, verschiedene Kanäle anzuzapfen. Amnesty International spricht von einem Schwarzmarkt der Informationen. In den vergangenen Jahren habe die syrische Regierung zunehmend auch finanziellen Profit aus der Praxis des Verschwindenlassens gezogen: Inzwischen bestehe ein Netz von Mittelsmännern mit engen Kontakten zu den Behörden, die den Angehörigen der Verschwundenen für Beträge zwischen einigen hundert und mehreren zehntausend US-Dollar Informationen über ihren Verbleib oder Tod verkaufen.

Eine Botschaft an alle Mütter in Syrien

Auch Fadwa Mahmoud wurden solche Deals angeboten. „Das sind alles Betrüger, weil Eltern bereit sind, Unsummen zu bezahlen, um irgendetwas über ihre Kinder in Erfahrung zu bringen.“ Viele Menschen hätten ihre Häuser verkauft, nur um sich eine Information leisten zu können. Sie habe sich auf keines der Angebote eingelassen. „Weil ich mir sicher bin, dass die Regierung meinen Mann und meinen Sohn nicht gegen Geld freilassen wird.“

Von ihrer Couch in Neukölln aus will Fadwa Mahmoud eine Botschaft an alle Mütter in Syrien schicken, deren Söhne verschwunden sind. Sie sollen nicht aufhören zu hoffen. „Ich sage jeder Mutter, Schwester und Ehefrau, dass ich ihre Stimme hier sein werde. Ich weiß, dass sie wegen des syrischen Regimes nicht selbst reden können.“

Fadwa Mahmoud hat ihre Aufgabe gefunden. Auch, wenn sie an manchen Tagen müde ist vom ständigen Versuch, zuversichtlich zu bleiben. Es fällt ihr schwer, mit 63 weiterhin auf der Flucht zu sein. Die Erinnerungen an ihre Familie quälen sie. Sie ist in Sicherheit. Aber sie bleibt allein.

Sie steht jetzt von der dunklen Couch auf. Geht hinüber zu den Fotos von Maher und Abdulaziz al Khair, die nebeneinander an der Wand hängen. Der Sohn in einer Trainingsjacke, eine Goldkette am Hals, der Ehemann mit ernstem Blick. Fadwa Mahmoud richtet den Zeigefinger auf die Bilder. Sie spricht nun nicht mehr für die anderen. „Ich muss stark bleiben. Und weiter für die Rechte meiner Familie kämpfen.“ Um ihre Beine streicht die Katze.

„Aufgeben“, sagt Fadwa Mahmoud, „ist nicht mein Ding.“

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