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Stille Nacht, stille Macht: Können wir überhaupt noch richtig zur Ruhe kommen?

Wenn Friedlichkeit und Frohsinn zum Leistungsziel werden: Ausgerechnet in der Weihnachtszeit ist Stille oft am seltensten. Einige Gedanken zu Heiligabend.

Das wahrscheinlich berühmteste Weihnachtslied der Welt wurde erstmals 1818 im österreichischen Oberndorf vorgetragen, und bis es so etwas wie Berühmtheit erlangt hatte, dauerte es mehr als 20 Jahre.

Ganz ohne Spotify und sonstige Vervielfältigungshilfen musste sich „Stille Nacht, heilige Nacht“ von Auswanderern höchstpersönlich in die Welt tragen lassen. Auf seinem langen Weg in die Charts konnte es viele Jahre – es fällt heute fast schwer, sich das vorzustellen – nur dort gehört werden, wo es gesungen wurde.

„Stille Nacht, heilige Nacht“. Die Reihenfolge ist Programm, wenn man davon ausgeht, dass erst mal Stille sein muss, damit etwas wie das Heilige überhaupt wahrgenommen werden kann. Und wenn man das Heilige als etwas annimmt, das nicht als nächstes irres Bäng!-Ding ins Zentrum aller Aufmerksamkeit hineinplatzt und umgehend unübersehbar ist. Aber gibt es diese Stille noch? Stille als Abwesenheit von Ablenkung, als leerer Raum, Stille als Platz fürs Leiseste?

Ironischerweise ist Stille ausgerechnet in der Weihnachtszeit für viele Menschen am allerseltensten, wenn zum ohnehin strapaziösen Alltag mit seinen viel beschriebenen Dauererreichbar- und -verfügbarkeitsleiden, den unentwegten Smartphone-„Plings“, den An-, Ab- und Nachfragen, den Mails und Tweets, den Slack-Nachrichten und Meetings, den Kickoffs und Feedbacks und dergleichen mehr noch der Geschenke- und Familienstress hinzukommt. Wenn Friedlichkeit und Frohsinn zu Leistungszielen werden.

„Wenn die stille Zeit vorbei ist, dann wird es auch endlich wieder ruhiger“, witzelte Karl Valentin, der rund 100 Jahre nach der Tiroler Weihnachtsliedpremiere allmählich berühmt wurde. Und zuckt man nicht kurz zusammen bei der Feststellung, dass dieses Zitat, das 2019 so trefflich passt, auch schon wieder gut 100 Jahre alt ist? Waren die Menschen wirklich auch damals schon gestresst?

Ein Pfarrer sagte kürzlich in einer Radioandacht, dass ihn das Valentin-Zitat traurig mache. Wie recht er hat. Was außer traurig soll es sein, wenn der Mensch sich offenbar sehenden Auges gegen sich und sein ureigenstes Interesse – sein Bedürfnis nach Ruhe – entscheidet?

Wenn alles übertönt wird, geht etwas verloren

Das Rennen und Streben, die Mühen des Schneller-Höher-Weiter in Ehren, aber wenn damit aller Raum belegt ist, wenn damit alles übertönt wird, dann geht dem Menschen etwas verloren. Der Raum nämlich, in dem ihm das Mehr begegnen kann, von dem doch viele hoffen, dass es existieren möge. Der Radiopfarrer nannte es „die eine Stimme, die bleibt“, wenn die vielen Echos des Alltags verstummt sind. Für Christen sei das dann die Stimme Gottes. Andere sagen vielleicht: der Sinn des Lebens.

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Wie auch immer man es nennt, ist es letztlich etwas, das gesehen, erspürt, erfahren werden will. Gelegenheiten dafür müssen geschaffen werden. Stille Nacht. Nicht vorm Fernseher sitzen, lesen oder chatten, bis die Augen zufallen. Sondern einfach mal nur dasitzen und nichts tun. Und nichts wollen.

Diese Art Stille herzustellen ist schwer genug. Sich solcherart seelisch zu öffnen, diese Dehnung zuzulassen, müsse trainiert werden wie im Ballett der Spagat, schreibt die österreichische Psychoanalytikerin Rotraud A. Perner. Das nerve und schmerze anfangs, sei aber nötig, wenn man empfänglich bleiben wolle. Ob für das Leben an sich. Oder das Heilige.

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