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Rudi Weissensteins Enkel Ben Peter verwaltet den Nachlass seines Großvaters.

© Lissy Kaufmann

70 Jahre Staatsgründung: Rudi Weissensteins Traum von Israel

Die Aufnahmen des Fotografen Rudi Weissenstein zeigen ein starkes, fröhliches Israel. Krieg und Vertreibung haben darin kaum Platz. Sein Enkel sagt: „Mein Großvater war ein Träumer“.

Rudi Weissenstein hält die Kamera in den Händen, er wartet auf den Moment. Der Saal im Tel Aviver Kunstmuseum am Rothschild-Boulevard ist voll besetzt. Es ist ein Freitag im Frühjahr 1948. 16 Uhr. In wenigen Stunden endet das britische Mandat über Palästina und eine neue Zeit bricht an.

Ein kleiner Mann in Sakko, Krawatte, mit Halbglatze und wuschelig weißem Haar liest die Auftaktrede dieser neuen Zeit von ein paar knittrigen losen Blättern ab. Und Rudi Weissenstein drückt auf den Auslöser.

Rudis Schwager, der die Zeremonie plante, hatte ihn als offiziellen Fotografen ausgewählt.

Er hält fest, wie David Ben-Gurion die Gründung des Staates Israel verkündet. Am 5. Iyar im Jahr 5708 des jüdischen Kalenders, der in diesem Jahr auf den 19. April fällt – vor genau 70 Jahren. Hinter Ben-Gurion, dem zukünftigen Premierminister, hängt das Bild von Theodor Herzl, dem Begründer des Zionismus. Daneben meterhohe Flaggen mit einem Davidstern in der Mitte: die Fahnen des soeben geborenen jüdischen Staates. Wenige Stunden später werden die USA und die Sowjetunion als erste diesen Staat diplomatisch anerkennen.

Rudi Weissenstein dokumentiert diesen historischen Nachmittag. Er dokumentiert ein Land im Aufbau. Über Jahrzehnte. Er macht Bilder, die noch heute aufbewahrt sind, hier im Fotoladen „The Photohouse Prior“ in Tel Aviv. Rund eine Million Negative umfasst sein Archiv, das Israel in der Zeit zwischen den 30er und 60er Jahren zeigt.

Draußen donnern an diesem Vormittag Kampfflugzeuge der israelischen Armee über den Strand der Stadt, sie üben für die Flugshow an Yom Haatzmaut, dem nun 70. Unabhängigkeitstag. Es ist ein kleines Wunder, dass das jüdische Volk nach knapp 2000 Jahren in der Diaspora, nach Verfolgung, Diskriminierung und dem Holocaust, einen eigenen, souveränen Staat bekam, und diesen trotz aller Anfeindungen in der Nachbarschaft etablierte. Ein Staat, der sich bis heute im Nahen Osten behauptet, auch wenn er seine Grenzen noch immer nicht endgültig definiert hat und noch immer nach einer Lösung für das Zusammenleben mit den Palästinensern sucht.

Hier drinnen im Laden steht Weissensteins Enkel, Ben Peter, ein großer, schlanker Mann, mit angegrauten, dunklen Locken, 41 Jahre alt. „Mein Großvater war ein Träumer“, sagt Ben Peter.

Blick in die Vergangenheit

Er selbst, sagt er „hatte mit Fotografie früher nicht viel zu tun, ich habe in einer Mobilfunkfirma gearbeitet.“ Nach und nach rutschte er rein in das Fotogeschäft, half zunächst seiner Großmutter, die den Laden nach Weissensteins Tod 1992 weiterführte. Nebenher besuchte er Fotografiekurse, lernte, in der Dunkelkammer zu arbeiten, mit einem Archiv umzugehen, Ausstellungen zu kuratieren. Er ist der Verwalter eines Erbes geworden, einer, der den Blick seines Großvaters auf dieses Land wahren will, und der dieses Fotogeschäft zu einer Art Museum, Fotoausstellung, Souvenir- und Geschenkeladen in einem gemacht hat, mit bedruckten Stofftaschen, Glasuntersetzern, Kühlschrankmagneten und Postkarten.

Rudi Weissensteins Bilder zeugen davon, wie dieses Land aufgebaut, wie Kibbuzim und Städte errichtet wurden und nach und nach ein Alltag Einzug hielt. „Damit begann er, als er 1936 hier ankam“, erzählt Ben Peter. Von dem Moment an, als Shimon Rudolph Weissenstein mit 26 Jahren und wenig mehr als einer Kamera in Jaffa von Bord eines Schiffes geht, fotografiert er. Rudi, der 1910 in Böhmen geboren wurde, bereist das Land von der Negevwüste im Süden bis nach Galiläa im Norden, von der Küste bis nach Jerusalem. Er fotografiert das Leben auf dem Land, Arbeiter auf dem Feld, Frauen im Café. Das erste Konzert der Philharmoniker in Tel Aviv 1936, die Eröffnung des ersten Supermarktes 1958.

Rudi Weissenstein mit einer Assistentin.
Rudi Weissenstein mit einer Assistentin.

© Photohouse

Er hält den Tag der Staatsgründung auch abseits der eigentlichen Verkündung fest: Vom Eingang des Kunstmuseums aus fotografiert er die Menschenmenge auf dem Rothschild-Boulevard. Angespannt blicken diese Israelis in seine Richtung, weiter hinten sind drei Burschen auf eine junge Palme geklettert, auf der anderen Straßenseite warten Männer und Frauen am Fenster und auf den Balkonen. Rudi Weissenstein dokumentiert diesen historischen Nachmittag in 26 Bildern, die so bedeutend sind, dass er sie später nicht in seinem Archiv im Fotoladen Prior auf der Tel Aviver Allenby-Straße, sondern in einem Karton im Schrank seines Schlafzimmers aufbewahren wird.

Nach und nach digitalisiert Ben Peter dieses Fotoarchiv, das wohl eines der größten, besterhaltenen des Landes ist. Einige Bilder können bei ihm bestellt werden, als Fotodrucke oder Poster. Durch Rudis Augen blicken Israelis hier in die Vergangenheit. Es ist der Blick eines Zionisten, der ein starkes, fröhliches Land abbildet – Armut, Krieg, Vertreibung haben darin keinen Platz. Und das, obwohl bereits wenige Stunden nach der Staatsgründung in der Nacht zum 15. Mai 1948 arabische Nachbarstaaten Israel angreifen.

Porträts von Politikern

Weissenstein macht stattdessen in seinem Studio Porträtfotos – auch von israelischen Politikern. „Es hieß, wer in der Politik was werden will, sollte zusehen, dass sein Porträt im Schaufenster von Rudi ausgestellt wird“, sagt Ben Peter. Deren Porträts hängen noch immer hier: eines von David Ben-Gurion aus dem Jahr 1957, vom jungen Schimon Peres, der später Staatspräsident wurde, und vom ebenso jungen Jitzchak Rabin, der als Premierminister ermordet wurde, von Golda Meir, der ersten und bislang einzigen Premierministerin Israels.

Ben Peter geht nach hinten, an einen braunen Holzschrank, ein Möbelstück wie aus dem Antiquitätenladen. Hier befindet sich ein Teil des Negativ-Archivs, das sein Großvater angelegt hat. Der hatte in Wien an der grafischen Lehr- und Versuchsanstalt Fotografie studiert, trug oft Jackett. Ben Peter, hier geboren und aufgewachsen, trägt weiße Sneaker, schwarze Jeans und ein graues T-Shirt.

Ganz oben, ganz links zieht er eine der vielen kleinen, nummerierten Schubladen heraus, hält sie mit beiden Händen. „Ziemlich schwer, am Anfang hat er noch Glas für die Negative benutzt“, sagt er. Es sind die allerersten Aufnahmen von Weissenstein aus Israel. „Ausgerechnet das erste Bild fehlt. Aber hier das zweite, Nummer 1002, ist da.“ Mit Daumen und Zeigefinger nimmt er das gläserne, handflächengroße Negativ aus einem Tütchen aus Pergamentpapier und hält es ins Licht der Leuchtstoffröhre: Zu erkennen ist eine Frau, die mit einem Pferd vor dem Pflug den Acker bearbeitet.

Es ist eines dieser vielen Bilder von der Landarbeit bei Sonnenschein, von starken, braungebrannten, muskulösen Menschen, die anpacken, den Boden urbar machen, Ernte einfahren. Wehrhafte, starke Juden, die mit diesem Land verwurzelt sind – so zeigte man sich gerne.

Das macht die Bilder noch heute so beliebt. Keines davon zeugt vom ersten israelisch-arabischen Krieg, der bis 1949 dauerte, von der Suezkrise 1956-57 oder dem Sechstagekrieg 1967. Nur ein Bild im bisher veröffentlichten Teil des Archivs erinnert an Krieg und Zerstörung: Es zeigt die Ruinen von Manshia, eines arabischen Stadtteils Tel Avivs, im Jahr 1948.

Dass während des Unabhängigkeitskrieges hunderttausende Palästinenser flüchteten, teilweise aus ihren Häusern vertrieben wurden und nie mehr zurückkehrten, fehlt in der Welt von Rudi Weissenstein.

Ganz verschlossen habe sein Großvater die Augen vor den Schattenseiten nicht, erzählt Ben Peter. Es gebe noch ein paar weniger idyllische Motive in jenem Teil des Archives, das der Öffentlichkeit heute weniger bekannt ist, vor allem aus der Zeit des arabischen Aufstandes 1936-39. „Es sind Bilder von Toten und von rassistischen Graffiti in den Straßen, die sich gegen die Araber richteten. Wir arbeiten derzeit daran, auch die dunklen Seiten des Archivs zu zeigen.“

Fremder in der neuen Heimat

Rudi Weissenstein fotografierte auch jene Motive, die als Vorlage für die Zeichnungen dienten, die auf die neuen Geldscheine gedruckt wurden. Der 50-Lirot-Schein zeigte ein junges Paar vor einer kleinen Siedlung, wohl einem Kibbuz, in bergiger Landschaft – zwei Pioniere mit entschlossenen Blicken. Ein Arbeiter mit Schiebermütze, die Ärmel hochgekrempelt und vor einer Fabrik stehend, ziert den Fünf-Lirot-Schein. Ein Mann im Labor ist auf dem Zehner abgebildet. „Das ist Rudi selbst“, sagt Ben Peter. „Der Wissenschaftler ist damals nicht zum Fototermin erschienen.“ Die Scheine hat er unter die Glasplatte eines der Tische im Laden geklemmt.

Im Fotobuch „Rudi“, das 2016 erschien, finden sich diese Motive nicht. „Die Arbeit meines Großvaters war höchst patriotisch, und vielleicht war das damals richtig“, sagt Ben Peter. „Aber in meinen Augen ist es heute nicht mehr richtig.“ Stattdessen wählte er Bilder, die den Alltag, weniger Symbolisches zeigen. Fröhlich wirken die fotografierten Menschen dennoch, „die naiv waren und optimistisch und die einen Traum hatten. Nicht davon, das Land zu nehmen, die Araber zu töten, alle anderen rauszuwerfen und zu sagen: Das gehört uns, wir waren schon in biblischen Zeiten hier. Nein. Ein Traum von einem Zuhause und einem Leben und einer Kultur.“

Noch 42 Jahre vor der Unabhängigkeit wurde der Begründer des Zionismus, Theodor Herzl, für einen Spinner gehalten, als er „Der Judenstaat“ veröffentlichte und darin beschrieb, wie er sich einen solchen Staat vorstellte.

Rudi Weissenstein war ein Zionist, der doch immer ein Fremder in seiner neuen Heimat blieb, einer jener Einwanderer, deren Muttersprache Deutsch war.

„Ich war 15, als mein Großvater starb“, sagt Ben Peter. „Aber ich erinnere mich noch, wie ich ihn als Kind besuchte, und er mir immer kleine Aufgaben gab.“ Er habe dem Jungen Fotopapier in die Hand gedrückt und Bürowerkzeug, einen Tacker, eine Schere, Stifte. „Die habe ich dann draußen, in der Sonne, auf das Fotopapier gelegt und geschaut, was passiert. Mein Großvater wollte, dass ich beschäftigt bin, und er in Ruhe arbeiten konnte.“

Vor einigen Monaten sei ein Mann aus Kanada hier im Laden aufgekreuzt, ein ehemaliger Mitarbeiter von Weissenstein. „Er beschrieb meinen Großvater als einen super-professionellen Menschen, der unheimlich viel gefordert hat, überkritisch war und auch klar gesagt hast: ‚Das hast du falsch gemacht.’“

Sein Zuhause war das Labor

Rudi Weissensteins Zuhause war das Fotolabor, das Studio, der Laden. Die Familie bekam das zu spüren. „Mein Onkel und meine Tante beschreiben ihn als sehr zurückgezogen, er habe wenige Freunde und Bekannte gehabt, immer gearbeitet.“ Drei Kinder zogen er und seine Frau Miriam groß, das jüngste davon, Michal, ist Ben Peters Mutter.

Rudi Weissenstein lernte Miriam im Jahr seiner Ankunft in Tel Aviv kennen. Auch sie kam aus Böhmen, sprach deutsch, wanderte bereits 1921 mit ihrer Familie nach Israel aus. Sie war eine Tänzerin und ist heute auf einem der bekanntesten Weissenstein-Bilder zu sehen: Die junge Miriam mit ihren dunkelbraunen langen Haaren, in einem kurzen, ärmellosen Sommerkleid, springt in die Luft, zieht die Füße zum Becken, dreht die Knie nach außen. Heute gibt es das Bild auch mit der gelbfarbenen Aufschrift „Tel Aviv“. Tel Aviv. Sommer, Leichtigkeit, Spaß. Weissenstein hat es 1941 aufgenommen, im Jahr nach seiner Hochzeit.

Seine Großmutter habe nach dem Tod ihres Mannes immer für sein Vermächtnis gekämpft, sagt Ben Peter. „Wie ein Bulldozer hat sie den Laden weitergeführt.“

In dem Dokumentarfilm „Life in Stills“ aus dem Jahr 2011 ist zu sehen, wie Miriam Weissenstein ein Jahr vor ihrem Tod noch im Laden arbeitet. Sie sitzt im Rollstuhl. Mit Ben Peter reist sie noch zu einer Ausstellungseröffnung nach Frankfurt am Main. Und sie versucht, zusammen mit ihrem Enkel gegen den Rauswurf aus dem alten Laden zu kämpfen, die beiden erscheinen zu einer Sitzung im Rathaus. Letztlich muss das Gebäude einem Neubau weichen. Sie ziehen um, ein paar hundert Meter weiter in die Tchernichovski-Straße.

Die 96-jährige Miriam mit Lippenstift und rotem Nagellack ist ruppig, stur, hinterfragt die Entscheidungen ihres Enkels. Der lässt eine Webseite einrichten, doch einen Computer hat Miriam nie bedient. Sie versteht nicht, wozu das gut sein soll, doch auch Ben Peter gibt nicht nach.

Heute hilft die Nationalbibliothek, die den Wert der Bilder als historisches Material erkannt hat. „Wenn ein Budget da ist, schicken sie jemanden, der die Bilder digitalisiert. 40 000 haben wir schon auf dem Rechner“, sagt Ben Peter. Viel Arbeit liegt noch vor ihnen, um Rudis träumerischen Blick auf Israel zu bewahren.

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