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Wandern in Georgien.

© diamir

Wandern in Georgien: Die vielleicht schönste Aussicht vom „Balkon Europas“

Im Nordwesten Georgiens lockt der wilde Kaukasus immer mehr Touristen an. Auf sie warten spannende Hochgebirgstouren und Blicke in eine Zeit, die einmal war.

Die beiden Wanderungen fanden an zwei aufeinanderfolgenden Tagen statt, und sie hätten kaum unterschiedlicher sein können. Nur eins galt für beide: Ich wurde nasser als alle anderen.

Die erste Tour begann an einer Brücke und führte zunächst über sonnenbeschienene breite bunt blühende hügelige Wiesen, weshalb aus der Gruppe zu vernehmen war: „Sieht ja aus wie in Österreich hier“ oder auch „sieht ja aus wie in Meran“. Aber das verebbte schnell wieder.

Der Weg wurde zum Pfad, und der wurde enger und steiler und führte in den Wald und wurde noch mal steiler und ging über Stock, Stein und Stege, denn nebenan rauschte und brodelte der Dolra-Fluss ins Tal. Über uns war immer wieder einer der Ushta-Gipfel zu sehen, gleißend schneebedeckt vor einem knallblauen Himmel.

Ushta? Dolra? Trekking-Pioniere mögen diese Namen kennen, aber für viele Wanderfreunde sind das noch unbekannte Größen. Sie finden sich in Swanetien, einer Hochgebirgsregion im Nordwesten Georgiens, an der Grenze zu Russland. Der Kaukasus hat hier eine durchschnittliche Höhe von 4000 Metern und kommt am Shkhara -Gipfel über die 5200er-Marke. Georgien wird als „Balkon Europas“ gerühmt, und wenn das so ist, dann ist Swanetien vielleicht das „an der Brüstung lehnen“.

Ein bisschen wie das Matterhorn, aber nicht so bekannt: der Ushta-Berg.
Ein bisschen wie das Matterhorn, aber nicht so bekannt: der Ushta-Berg.

© Michel Pretzsch/Diamir

Wer einmal dort war, besingt in aller Regel die gigantischen Berge, deren Spitzen Anfang Juni noch weiß sind, die sanften Täler und kleinen Örtchen mit ihren typischen steinernen Wehrtürmen, die der Region einen Platz in der Unesco-Weltkulturerbe-Liste eingebracht haben. Besungen werden auch die Gastfreundschaft der Menschen und Tafeln, die sich unter Tellern voller kleiner Speisen biegen.

Oder die frei herumlaufenden Kühe und Schweine, die sich abends selbst in ihren Ställen einfinden, ganz so, als gingen sie tagsüber ihrer Arbeit nach, während die Menschen anderes erledigen. Und auch die großen halsbandlosen Hunde finden allenthalben Erwähnung, wie sie Wanderer teils stundenlang freundlich begleiten, bevor sie plötzlich wieder verschwunden sind.

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Die Unbekanntheit Swanetiens kommt nicht von ungefähr. Die Gegend ist erst seit 2004 verkehrsmäßig richtig erschlossen, was im Auftrag der Regierung geschah und nicht ohne Scharmützel mit den bis dahin in der Abgeschiedenheit herrschenden Großfamilien ablief. Darüber wird nicht gern gesprochen, denn große Familien kennen viele Leute, und Georgien ist ein recht kleines Land: Auf ungefähr der Fläche der Schweiz leben nicht mal so viele Menschen wie in Berlin.

Die faktische Kleinheit gerät angesichts der landschaftlichen Großartigkeiten schnell in Vergessenheit. Was das Land – deutlich profaner – außerdem groß wirken lässt, sind die schlaglochreichen Straßen, die jenseits der guten Autobahnen vorherrschen. Man kann Autofahrten auf den teils erdrutschdemolierten Pisten gut unter dem Punkt „Abenteuer“ verbuchen. Oder, falls man es eiliger hat, per Mini-Flugzeug in die swanische Provinzhauptstadt Mestia reisen. Besonders Berliner dürfte entzücken, dass das dortige Flughafengebäude von Berliner Architekten stammt, der Bau extrem günstig blieb und in nur drei Monaten vollendet werden konnte.

Unsere Gruppe erreichte Mestia aber nicht per Flugzeug, sondern nach einer langen Fahrt von der Hauptstadt Tiblissi und nach unserer ersten Wanderung am Ushta-Berg. Deren Ziel war der Shdruga-Wasserfall, der sich aus den Gletschern des Ushta speist, dem berühmtesten Gipfel der Region, was aber nur die halbe Wahrheit ist, denn er hat zwei Gipfel.

Den Wasserfall im Blick stiefelten wir bergan.
Den Wasserfall im Blick stiefelten wir bergan.

© GNTA

Beide sehen aus wie das Matterhorn und sind je nochmal gut 400 Meter höher als der weltbekannte Schweizer. Weshalb man sich sofort fragt, warum man den Georgier hier nicht kannte. Aber was weiß man hierzulande schon von Georgien und erst recht von dessen Hinterland?

Offenbar ja so wenig, dass man bei Erstbegegnung vorübergehend Halt in Vergleichen – Österreich oder Meran – sucht. Gänzlich Schluss mit der Vergleicherei war, als wir bei 2000 Metern über der Baumgrenze angekommen waren, und immer noch alles so grün und üppig war, dass man Lust bekam, laut zu singen.

Im Reiseführer fand ich dazu passend die Anekdote, nach der die Georgier, als Gott das Land an die Völker verteilt hat, zu spät gekommen sind. Es war also alles schon weg. Aber sie waren so fröhlich und nett, dass Gott sich entschloss, ihnen das Stück Land zu geben, dass er eigentlich für sich reserviert hatte. Und man wird davon ausgehen können, dass Gott weiß, was gut ist.

Alles so schön grün hier!
Alles so schön grün hier!

© GNTA

Um zum Wasserfall zu kommen, mussten wir durch den Fluss. Der rauschte schmelzwasserreich und schnell Richtung Tal, aber im Flussbett lagen viele Steine, auch große, und genug, um eine Route von hier nach drüben zu ahnen.

Ein bisschen heikel fand ich das schon, aber als der Tour-Guide vorneweg bis zur Flussmitte gehüpft war, hüpfte ich hinterher. Leider nicht ganz so gekonnt: Ich rutschte ab und versank – platsch! – im reißenden Wasser. Ich strampelte herum, ohne Halt zu finden und rief ein paar Mal „oh nein“, bis der Tourguide mich packen und aus dem Wasser ziehen konnte.

Wieder um eine Erfahrung reicher, versuchte ich mich zu trösten. Aber als ich dann meine Schuhe und Socken auszuwringen versuchte, was nicht sehr gut klappte, fing ich doch an zu jammern. Was für Elend! Könnte ich mit so patschnassen Schuhen überhaupt weiterwandern? Würde ich zurückbleiben müssen?

No plans, no problems.

Tourguide-Weisheit

Der Tour-Guide schaute sich meine wachsende Verzweiflung ein paar Minuten an, dann sagte er: „Hey, it’s just water.“ Es ist nur Wasser. Damit hatte er a) zweifelsohne recht und lieferte b) auch den richtigen „Sound of Pragmatism“, den man beim Wandern sowieso und in Georgien vielleicht besonders gut brauchen kann. „Georgien heißt möglich machen“, hörten wir öfter, oder auch: „No plans, no problems.“

Als wir dann noch ein paar steile Minuten später auf einem Plateau angekommen waren, wo der Wasserfall tosend herabdonnert, waren die nassen Schuhe und ihr „Quietsch-quatsch“ umgehend vergessen. Was für eine Kulisse. Und es ist ja nicht nur das.

Die jahrhundertelange Abgeschiedenheit hat dafür gesorgt, dass vieles hier von hektischen Effizienzbemühungen ausgespart blieb. Mit Blick auf den Umgang mit der Natur heißt das vor allem: Es blieb nachhaltig im besten Sinn. Aber natürlich tickt auch in Swanetien die Uhr. Die Hofbesitzer haben sich eingestellt auf neue Zeiten.

Es gibt fast überall Guest Houses und kleine Buden, an denen Snacks verkauft werden. Manches Privatauto wird als Taxi genutzt, die vielen Wanderrouten, die von einer entlegenen Ortschaft zur nächsten führen, sind markiert und teils sehr gut ausgeschildert, und die jüngeren Bewohner der Gegend sprechen Englisch.

Wir machten Rast und ließen uns von der Gischt einnebeln und erfrischen. Auf der anderen Seite des Flusses konnten wir weitere Wanderer sehen, die sich langsam auf unsere Höhe zubewegten. Darunter viele Einheimische, wie wir herausfanden, als wir ihnen beim Abstieg wieder begegneten, aber auch Australier, Polen und Israelis.

Diese zugegeben wenigen Begegnungen lassen erahnen, dass die Tourismusstrategie des Landes aufgehen könnte. Georgien, das zu Sowjetzeiten fast ausschließlich mit seiner Schwarzmeerküste lockte, hat sich längst breiter aufgestellt und wirbt überall auf der Welt für sich. Jenseits von Strand und Casino-Remmidemmi gibt es inzwischen Kultur und Natur zu besichtigen.

Und die Leute kamen. Über die Jahre sind die Besucherzahlen stetig gestiegen, bis die Corona-Pandemie mit eiserner Faust dazwischen gehauen hat. Von dem Schlag erholt sich das Land nun gerade, wiederum langsam, aber stetig. Die Zahl der Urlauber aus Deutschland ist 2022 ungefähr auf dem Niveau von 2017 gewesen, und 2023 ließ sich gut an.

Langsam, aber stetig, und aus Deutschland: Das galt auch für uns und bringt uns zurück an den Wasserfall. Von unserem Plateau aus schauten wir eine Weile verzückt in das Tal, in dem wir die vorige Nacht in einem großen Guest House verbracht hatten. In Becho, wo zwei alte Bauern ihr Feld mit einem Ochsenkarren bestellt haben.  

Der Abstieg über den warmen Pfad durch den duftenden Wald ließ meine Schuhe schnell trockener und leiser werden. Und dann konnte ich sie sogar noch auf dem Hotelbalkon in Mestia, unserem nächsten Übernachtungsort, in der Abendsonne platzieren. Alles gut, liebe Schuhe, danke fürs Heilbleiben, dachte ich.

Am nächsten Tag ging es erstmal im Jeep Richtung Osten, zunächst nach Ushguli, von wo aus wir zur Gletscherzunge des Shkhara wandern wollten, des mit 5201 Metern höchsten Bergs Georgiens. Und auch Ushguli kennt einen Superlativ: Das Dorf galt lange als die höchstgelegene Dauersiedlung Europas. Was den Einwohner bis heute komplett eingeschneite Winter verschafft, denn das Straßenbauprojekt, das die Ortschaft mit Mestia verbinden soll, zieht sich.

Über die Straße nach Ushguli rauschten Wassermassen ins Tal.
Über die Straße nach Ushguli rauschten Wassermassen ins Tal.

© GNTA

Über Nacht hatte sich das Wetter komplett verändert. Statt Sonne gab es tief hängende Wolken, so dass die Knalleraussicht auf den 5000er-Gipfel, die dem Weg zum Gletscher das i-Tüpfelchen aufsetzen sollte, ausfiel.

Der Weg führte entlang der breiten Schneise des Enguri-Flusses und hätte sich mit dem Jeep noch ein gutes Stück weiter bewältigen lassen. Aber wir gingen zu Fuß durchs diesige Grau und beweinten das fehlende Panorama, was ich so lange in Ordnung fand, bis es anfing zu regnen.

Der 5000-Gipfel wurde von den Wolken verschluckt.
Der 5000-Gipfel wurde von den Wolken verschluckt.

© GNTA

Während die Gruppe lediglich die Wetterkleidung etwas enger schnürte, musste ich feststellen, dass meine Schutzjacke gar nichts taugte. Ich wurde also abermals nass. Diesmal nicht bis zum Knie, diesmal bis auf die Knochen.

Ein bisschen Schutz spendete am Ende der Schneise das eichenwaldige Aufstiegsstück, in dem es höchst verwunschen aussah. Dann ging es nochmal über Wiesen und Schotter, und dann war da der Fuß des Gletschers. Grau, kalt, alt. Einerseits sehr erhaben und andererseits der Schnee von gestern.

Bei Gletschern denken inzwischen viele Menschen an Klimakrise und Erderwärmung, ich dachte in meiner leise zähneklappernden Lage vor allem an Selbstwärmung und konnte es kaum abwarten, den nächsten Programmpunkt anzusteuern: die Rast in Ushguli.

Der alte Gasthof hatte drinnen und draußen für uns Platz, und da nun zum Abend hin die Wolken doch noch aufrissen, entschieden wir uns für draußen. Während die Wirtinnen Teller um Teller auf dem langen Holztisch platzierten, hingen unsere Jacken zum Trocknen in der Brise. Wie immer gab es Karaffen voll mit georgischem Wein zum Essen, und es dauerte nicht lange dauerte, bis wir alle bester Dinge waren. Und meine abermals eingeweichten Schuhe? Hey, it was just water.

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