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Chile

© Malherbe/laif

Chile: Rollende Träume

Von Nord nach Süd durch Chile: Mit dem Luxuszug "Transpacifico." Der Bericht einer Pilotreise.

Pilotreisende sind Helden der Genügsamkeit. Ein Zug, der drei Stunden zu spät zur Jungfernfahrt eintrifft? Kann vorkommen. Kein Wasser in der Dusche? Gibt Schlimmeres. Nagelneue Toiletten, die zunächst verstopft sind? Nicht gerade prickelnd – aber man stirbt auch nicht daran. Gleichmut herrscht – schließlich waren sie gewarnt worden: „Der Reisepreis basiert auf dem Einverständnis aller Teilnehmer, dass alles so angenommen wird, wie es kommt.“ Und also nehmen sie an und hin. Die 40 Reisenden, die als allererste die vierzehntägige Fahrt des Transpacifico von Santiago de Chile nach Puerto Varas ausprobieren, brauchen etwas Geduld. Doch die wird belohnt.

Sechs Wochen lang hat sich ein Team aus Technikern und Handwerkern die fünf Linke-Hofmann-Waggons vorgenommen, die 1929 in Breslau gebaut wurden und noch bis 2003 im normalen Zugbetrieb in Chile eingesetzt waren. Leitungen wurden verlegt, Wassertanks eingebaut, Sitze aufgepolstert, Mahagoniwände abgebürstet. Man erstand modernes Porzellan und weiße Bademäntel, hängte schöne Lampen in den Speisewagen und stattete die Bordküche mit allen technischen Finessen aus. Das Geld dafür stellte das deutsch-chilenische Unternehmen Evergreen Express.

Fristgerecht fertig geworden ist das Ganze freilich nicht. Und so zuckelt an diesem Abend aus dem Bahnhof von Santiago ein stahlgrau gestrichenes Provisorium, eine vage Anmutung dessen, was spätestens im Oktober dieses Jahres Südamerikas erster Luxuszug sein will.

Schon am nächsten Morgen jedoch lenkt der erste Ausflug von den Unzulänglichkeiten des Premierenabends ab. Mit dem Bus, der die ganze Reise dabei sein wird, zu Fuß und mit einigen der für die Stadt typischen Schrägaufzüge geht es durch Valparaiso, das wie ein natürliches Amphitheater wirkt. In starken Farben leuchten die Häuser der Stadt auf den 45 Hügeln, dörfliche Stille herrscht oben, während unten auf der Bühne des Hafens die Schiffe der Kriegsmarine aufgereiht liegen wie ein Modellbausatz. Hier, auf halber Höhe des Cerro Florida, hat Pablo Neruda eines seiner Domizile eingerichtet: ein Ensemble aus aufeinandergeschachtelten Stockwerken in Ocker und Weiß mit halbrunden Fensterfronten. Viel buntes Glas, das der Dichter so liebte, schmückt das Innere, Schiffszierrat aus Messing die Bar. In einer hohlen Porzellankuh mischte Pablo, wie sie ihn immer noch nennen, seinen Punsch. Ganz oben aber ächzen die Fenster unterm Anstoß der Winde. Sie gaben dem Poeten an seinem Schreibtisch das Gefühl, Leuchtturmwärter zu sein, oder gar Kapitän auf hoher See – der See, die ihn ein Leben lang gleichermaßen faszinierte wie schreckte.

Von nun an führt die Reise des Transpacifico stracks nach Süden. Weit und flach ist das Land, Rebenfelder, Apfelplantagen und Maisfelder ziehen an den Fenstern vorbei. Die Lage im Zug entspannt sich nach und nach, die Mängel werden behoben. Eine nächtliche Weinprobe tut ein Übriges, ebenso wie der spontane Besuch eines Rodeos oder ein fröhliches Grillfest am Fluss. Nicht weniger Anteil an der allgemeinen Befriedung hat die Küche. Was Javier, der mexikanische Koch, mittags und abends in makelloser Optik auftischt, zeigt Format: Ob frisch gepresste Säfte, Empanadas mit Meeresfrüchten oder ein klassischer Eintopf aus Rindfleisch, Mais und Bohnen – alles ist frisch zubereitet und richtet sich an der lokalen chilenischen Küche aus. Wer im Zug noch immer leise über kleine Unzulänglichkeiten klagt, wird im Speisewagen schnell versöhnt.

Mittlerweile hat man sich eingerichtet in den Liegewagen. Nachts werden die Betten durch Vorhänge vom Gang getrennt, und während die Gäste frühstücken, klappen die Stewards das obere Lager hoch, verwandeln das untere in eine Sitzgruppe. Nicht anders funktioniert es in den Zweierabteilen der Schlafwagen. Dusche und Toilette gibt es vorerst nur an den Enden jedes Waggons. Nun gut, morgens und abends ist der Andrang groß, doch im Oktober soll jedes Abteil über eine eigene Nasszelle verfügen.

Allmählich verliert das Land seinen Plantagencharakter. An Eukalyptuswäldern fährt der Zug vorbei, an Wiesen mit gefleckten Kühen und an Städten, in denen Dutzende identischer Häuschen neben und hintereinander aufgereiht stehen. Schönwetterwolken krönen Schneegipfel am Horizont. Der Río Biobío zieht breit, träge und durchsetzt von Sandbänken dahin.

Von Tag zu Tag führt die Reise tiefer in die Vergangenheit – die des chilenischen Eisenbahnwesens, das stets aufs engste verknüpft war mit der Geschichte des Landes. In San Rosendo verdichtet sie sich. „San Rosendo hatte 4000 Einwohner. 3900 arbeiteten bei der Bahn“, doziert im Speisewagen Alejandro Mihovilovich Gratz, Geschichtsprofessor aus Concepción. In dem Nest, in dem die Bahnlinien aus Norden, Süden und vom Pazifik aufeinanderstoßen, befand sich lange Jahre eines der wichtigsten Ausbesserungswerke Chiles. Hier wurden im 19. Jahrhundert jene Waggons repariert, die Weizen zu den Abenteurern auf den kalifornischen Goldfeldern transportierten. Hier wartete man auch die Züge für Salpeter, Kohle und Erze. San Rosendo war ein Nervenzentrum im Rückgrat des Landes, der Bahnlinie von Nord nach Süd.

Doch 1981 war Schluss in San Rosendo. Zurückblieben Menschen, die sich daran klammern, dass es irgendwie weitergehen muss. Von den jeweils 40, 50 Touristen, die der Transpacifico ein paarmal pro Jahr bringen wird, verspricht sich Vizebürgermeister Carlos Lavados wirtschaftlich nicht allzu viel. „Aber wenn Ausländer sich für unseren Ort interessieren, müssten doch auch die Chilenen irgendwann kapieren, welch kostbares Erbe sie hier haben.“

Diese Hoffnung teilen viele der Gemeinden an der Strecke. Musikgruppen spielen, Politiker haben sich in Schale geworfen, Kinder tanzen, und in Loncoche schubsen sich die Zuschauer fast gegenseitig vom Bahnsteig. So viele sind gekommen. Seit Jahrzehnten verhindert die Lobby der Bus- und Transportunternehmer, die mit ihren Streiks schon 1973 den Sturz Allendes eingeläutet hatte, den Wiederaufbau eines nationalen Eisenbahnnetzes für Passagiere. Der Transpacifico wird für viele Menschen zu einem Hoffnungszeichen, dass die Züge irgendwann doch wieder fahren könnten.

Und der Zug rollt weiter. Bringt seine Gäste nach Concepción und Lota, wo sie hinab in die Kohlemine steigen, die unter den Meeresboden getrieben wurde. Fährt sie nach Victoria, zum Frühstück mit dem Mapuche-Indianern, den Ureinwohnern Araukaniens, die sie touristengerecht mit einem „Tanz um den Baum“ willkommen heißen und mit Schmalzgebäck, Chilisoße und einem Getränk aus angegorenem Weizen bewirten. Vorbei an bepuderten Vulkanen trägt er sie, an Brombeerhecken und hügeligem Weideland, das durch die Silhouetten einzelner Buchen und die sperrigen Äste der Araukarien Tiefe gewinnt. Und manchmal gibt’s Geschichten wie die von Zugbegleiter Gabriel, der einst Eisenbahner war, nach einem Unfall ausscheiden musste und jetzt für wenig Geld die Betten macht, nur um wieder an Bord sein zu dürfen.

Immer weiter rollt der Zug, die Temperaturen gehen zurück, die Schienen werden schlechter, das Rütteln nimmt zu. Weiter rollt er, nach Süden erst, und dann 1500 Kilometer zurück nach Santiago, seiner Zukunft entgegen. Noch ist es ein langer Weg bis zum Salonwagen mit Kamin, der Panoramaterrasse mit gläsernem Dach, dem versprochenen Abteilservice und der Musikanlage mit mehreren Kanälen. Noch wartet ungeheuer viel Arbeit bis Oktober – aber sie könnte sich lohnen.

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