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Kirchen in Hülle und Fülle. Das rote Gotteshaus in Uglitsch wurde an dem Ort errichtet, an dem der Sohn von Iwan dem Schrecklichen getötet wurde.

© mauritius images / United Archiv

Kreuzfahrt in Russland: Die Wolga hütet das Geheimnis

Eine Flusskreuzfahrt von Moskau bis St. Petersburg präsentiert auf 1700 Kilometern Kirchen, Parks und Paläste. Russland aber bleibt dennoch ein Rätsel

Rilke war bezaubert: „Auf der Wolga, diesem ruhig rollenden Meer, Tage zu sein und Nächte, viele Tage und viele Nächte: ein breit-breiter Strom, hoher, hoher Wald an dem einen Ufer, an der anderen Seite tiefes Heideland …“ So schwärmte der Dichter 1899 auf seiner ersten Russland-Reise. Und 120 Jahre später? Kann man das so ähnlich erleben?

Die „Kronstadt“ liegt noch fest vertäut am Rand von Moskau. Das ist das Flussschiff, das uns über Moskwa, Wolga, Swir und Newa binnen acht Tagen nach St. Petersburg bringen wird. Die „Kronstadt“ hat schon einige Jahre auf dem Buckel. 1979 wurde sie in Boizenburg in der DDR gebaut und 2018 zuletzt renoviert. Zwei Tage bevor das Schiff ablegen wird, sind rund 200 Passagiere an Bord gegangen. Das Praktische an dieser Tour zwischen der russischen Hauptstadt und St. Petersburg ist ja, dass man am Anfang und am Ende zwei Metropolen gleichsam als Zugabe bekommt.

Metropole mit 140 Stadtteilen

Moskau – wo soll man anfangen in einer Zwölf-Millionen-Stadt? Eine Metropole mit 140 Stadtteilen! Die meisten Passagiere gehen auf Nummer sicher und wählen die Tagestour im Ausflugsbus, vorbei am Gorki-Platz, dem Bolschoi-Theater über die Hauptgeschäftsstraßen Nowy Arbat und Twerskaja. Ein Glück, dass heute Sonntag ist. Der Verkehr fließt einigermaßen. Wochentags ist Dauerstau. „Vier Millionen Fahrzeuge sind täglich unterwegs“, sagt Reiseführerin Tatjana.

Rund und bunt. Matrjoschka gibt's in jedem russischen Souvenirgeschäft.
Rund und bunt. Matrjoschka gibt's in jedem russischen Souvenirgeschäft.

© Hella Kaiser

Auf den Roten Platz dürfen Autos erfreulicherweise nicht. Fußgänger können wie eh und je die prächtige Basilius-Kathedrale mit ihren neun bunten Kuppeln umrunden und staunen über die riesigen Ausmaße des legendären einstigen Warenhauses GUM. 30 000 Besucher habe es täglich, sagt Tatjana, doch niemand kaufe dort. Gucci, Cartier, Prada und Co. nutzten den Standort nur fürs Image, vermutet sie. Die grandiose Architektur des Konsumtempels ist zum Glück unangetastet geblieben. 40 Millionen Backsteine und 60 000 Glasscheiben sind hier gegen Ende des 19. Jahrhunderts verbaut worden, alles ist aufwändig mit Marmor und Granit verziert.

Ein neuer Park am Kreml

Das Hotel Rossija, mit 3170 Zimmern einst größtes Hotel Europas, gibt es schon lange nicht mehr. 2006 wurde es abgerissen, ein gläserner multifunktionaler Gebäudekomplex sollte an seiner Stelle entstehen. „Die Moskauer protestierten, denn es gab ja schon mehr als genug Malls in der Stadt“, erzählt Tatjana. Die Menschen wünschten sich eine Grünanlage, Stadtpolitiker wollten verdienen. Putin habe schließlich ein Machtwort gesprochen: Seit zwei Jahren gibt es hier nun, zwischen Kreml und der Moskwa, den Sarjadje-Park, entworfen von einem New Yorker Architekturbüro. Wie gern würde man jetzt darin spazieren. Doch der Busfahrer hat den Motor schon angelassen, Tatjana mahnt zum Einsteigen. Nächster Stopp: Sperlingsberge. Dort steht das Hauptgebäude der Lomonossow-Universität, 240 Meter hoch, gebaut im stalinistischen Zuckerbäckerstil.

Russisches Dubai. Das neue Moskau wächst gläsern in die Höhe.
Russisches Dubai. Das neue Moskau wächst gläsern in die Höhe.

© Getty Images

Von den Sperlingsbergen bietet sich eine kolossale Aussicht über die Stadt. Das Luschniki-Stadion, mit 81000 Plätzen das größte Fußballstadion Russlands, liegt einem zu Füßen. Zum Greifen nah scheint das neue Viertel Moskau-City. Acht gläserne Hochhaustürme schrauben sich gen Himmel, sieben weitere sind geplant. Eine Art russisches Dubai. „Die Entfernung zum Kreml beträgt nur 500 Meter Luftlinie“, sagt Tatjana und fügt zufrieden hinzu: „Die Silhouette der Altstadt wird nicht beeinträchtigt.“

222 Metrostationen in Moskau

Man kann einiges lernen in Moskau. Vor allem unter der Erde. 222 (!) Metrostationen gibt es in der Stadt und in den kommenden vier bis fünf Jahren sollen 50 neue U-Bahnhöfe hinzukommen. Der Untergrund-Verkehr flutscht. Kaum ist eine silberfarbene Bahn weggefahren, saust schon die nächste heran. Etliche Passagiere probieren das Verkehrssystem am nächsten Tag aus und preisen die Schönheit der Bahnhöfe – und die Sauberkeit. Keine Schmierereien, kein Fitzelchen Papier, nirgends. Moskau beeindruckt und lässt einen zugleich ratlos zurück. So viele teure Läden, so viele exquisite Restaurants, so viele große blank geputzte Autos. Wie man hier zurechtkommen kann ohne dick gefüllte Brieftasche, bleibt ein Rätsel. Die russische Seele, hier findet man sie nicht.

Kaljasin versank fast komplett im Stausee

Zeit, endlich loszufahren. Fast 1700 Flusskilometer liegen vor uns. Durch mehrere Schleusen geht es den Moskaukanal hinunter, dann gleiten wir auf der Wolga dahin. Am Mittag passieren wir Kaljasin. Aber was ist von der Stadt übrig geblieben? Stalin verfügte den Bau eines Wasserkraftwerkes, die Wolga musste gestaut werden. Mehrere Orte versanken in den Fluten, darunter Teile von Kaljasin. Wie eine Mahnung ragt der Glockenturm der Nikolaus-Kathedrale aus dem Wasser. Nun gilt er als größte Sehenswürdigkeit der Stadt mit 13 000 Einwohnern.

Lenin. Überall in Russland wird an ihn erinnert, wenn auch selten "in der ersten Reihe". Hier sitzt er versteckt abseits der Moskauer Twerskaja.
Lenin. Überall in Russland wird an ihn erinnert, wenn auch selten "in der ersten Reihe". Hier sitzt er versteckt abseits der Moskauer Twerskaja.

© Hella Kaiser

Am Ufer gleiten bunte Holzhäuser vorbei, dazwischen Wiesen und Wälder. Zwiebeltürme haben wir schon so viele gesehen, sie überraschen uns nicht mehr. Aber die blutrote Kirche mit ihren tintenblauen Kuppeln in Uglitsch sticht heraus. 1692 war sie an dem Ort errichtet worden, an dem Dmitri, der Sohn Iwans des Schrecklichen, zu Tode kam. Vermutlich hatte Regent Boris Godunow ihn ermorden lassen, um selbst Zar zu werden. Ein Drama, das Alexander Puschkin 1825 meisterlich aufgeschrieben hat.

Uglitsch hat gepflegte Parkanlagen, die Kirchen sind tadellos. Doch an den Häusern blättert der Putz, altersschwache Busse rumpeln über den maroden Asphalt. Es gibt keine Mall, nur ein paar kleine Geschäfte, in denen Waren nicht dekoriert, sondern einfach ausgelegt sind. Moskau ist keine 240 Kilometer entfernt. Und doch so weit weg.

Jaroslawl indes, wo wir am nächsten Morgen anlegen, hat sich hübsch herausgeputzt. Lenin steht im Kreisverkehr auf einem hohen Sockel und weist mit ausgestrecktem Arm den Weg. Er wirkt verloren. Wer interessiert sich noch für ihn? Die Stadt ist stolz auf ihre Theater und Museen – und auf 30 Kirchen. Eine steht im Mittelpunkt: die Mariä-Entschlafens-Kathedrale. 1937 wurde sie gesprengt, seit 2004 wieder aufgebaut und 2010 geweiht. Originalgetreu heißt es, nur ist sie nun dreimal so groß.

250 Kilometer lang ist der Onegasee

In diesem größten Land der Erde muss wohl alles riesig sein. Der Onegasee, über den wir jetzt schippern sollen, ist 250 Kilometer lang und rund 92 Kilometer breit. Ein Meer. Und genauso benimmt es sich jetzt. „Die Wellen sind drei Meter hoch“, meldet der Kapitän. Zu hoch für die „Kronstadt“. So können wir nicht wie geplant zur Insel Kischi fahren, mit ihren karelischen Holzbauten, die zum Unesco-Weltkulturerbe gehören. Stattdessen Landgang in Wytegra. Selten kommen Touristen hier an. Nicht ein einziger Souvenirstand ist aufgebaut, während es in Uglitsch und Jaroslawl jeweils Dutzende waren. Eilig wird von der Reederei eine Ortsführerin angefragt, die durchs bizarre Sammelsurium des Heimatmuseums führt und schließlich durch ein U-Boot, das 1999 ausgemustert wurde und nun am Ufer besichtigt werden kann.

Katharinenpalast, 25 Kilometer südlich von St. Petersburg. In einem der prunkvollen Säle befindet sich das rekonstruierte Bernsteinzimmer.
Katharinenpalast, 25 Kilometer südlich von St. Petersburg. In einem der prunkvollen Säle befindet sich das rekonstruierte Bernsteinzimmer.

© Hella Kaiser

In Wytegra steht die Skulptur eines riesigen weißen Soldaten und eine Kirche, deren Renovierung wohl seit Langem stockt. In einem Kiosk wird Brot verkauft, aber wie machen wir der Frau hinter der Butzenscheibe klar, dass wir das dunkle aus Vollkornmehl möchten? Maria, die umsichtige Gästebetreuerin an Bord, hat uns russische Worte beigebracht. Nun können wir zwar unseren Namen auf Kyrillisch schreiben und sogar ein Kinderlied singen, doch für einen Einkauf reichen unsere Kenntnisse noch nicht.

Bald hätten wir viele Stunden Zeit zum Lernen. Denn vor St. Petersburg müssen wir noch den größten See Europas queren, den Ladogasee. Zuvor, auf dem Swir, war nicht mal Zeit zum Lesen. Denn: Es gab so viel zu sehen! Holzhäuser waren zu bewundern, in Gelb, in Grün, in Blau, keines sah wie das andere aus. Und dann wieder drängten sich Bäume dicht an dicht, viele Kilometer lang. Ob es hier beginnt, das wahre Russland?

Peterhof. Die Anlage, 30 Kilometer westlich von St. Petersburg, wurde von den Deutschen im Zweiten Weltkrieg zu großen Teilen zerstört und später rekonstruiert.
Peterhof. Die Anlage, 30 Kilometer westlich von St. Petersburg, wurde von den Deutschen im Zweiten Weltkrieg zu großen Teilen zerstört und später rekonstruiert.

© Hella Kaiser

Rilke hat nicht viel geholfen bei dieser Tour. Nicht mal im Peterhof, einst von Peter dem Großen errichtet. Das russische Versailles am Finnischen Meerbusen, 30 Kilometer westlich von St. Petersburg, hat den Dichter wohl stumm gemacht wie uns. Welch eine Pracht. Die riesige Parkanlage präsentiert sich mit ungezählten Statuen, Springbrunnen und Fontänen.

Was bleibt am Ende dieser Reise, auf der man so viel, und doch nur einen winzigen Ausschnitt Russlands gesehen hat? Winston Churchill hat das Land so beschrieben: „Russland ist ein Rätsel innerhalb eines Geheimnisses umgeben von einem Mysterium.“ Dem ist nichts hinzuzufügen.

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