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Entspannung: Insel des Lichts

Hiddensee weist die meisten Sonnentage in der Ostsee auf. Auch im Winter. Bei wenig Ablenkung genießt man so die Natur.

Nur Hartgesottene stehen auf dem Oberdeck. Der Rest, ein dutzend Reisende, sieht den Urlaubstagen auf Hiddensee hoffnungsvoll aus dem warmen Bauch der Fähre entgegen, die kleckerweise ihre magere Fracht in Neuendorf, Vitte und schließlich in Kloster abliefert. Kein Feriengewimmel, kein Fuhrwerk, kein Fahrradgeklingel. Wer die Sommeridylle in Erinnerung hat, wird erst allmählich das absolute Nichts als Zugewinn erkennen. Die Kofferwagen im Hafen liegen wie hilflose Käfer auf dem Bauch und strecken ihre Räder in den Himmel. Hiddensee im Winter ist eine Ferieninsel, die sich von sich selbst erholen muss.

Einsam am Kai fühlt man sich jetzt eher ausgesetzt als angekommen. Am Kiosk dümpeln Männer in blauen Wattejacken über den Schaumkronen ihrer Morgengespräche. Die meisten Restaurants sind geschlossen. Keine Kneipe, nirgends. Die Insel macht Inventur. Wer jetzt Hunger hat, kann lange suchen. Oder beten.

Es ist Sonntag zehn Uhr. Über den matschigen Kirchweg von Kloster pilgern eingemummelte Gestalten in das kleine Gotteshaus. Die Hiddenseer sind gläubige Menschen. Zumindest wenn man dem Kirchenregister glaubt: Etwa die Hälfte der 1200 Insulaner sind eingetragene Kirchenglieder. Das ist ungewöhnlich für ostdeutsche Verhältnisse. Die Gesichter der Sonntagskirchgänger verraten aber auch, dass Hiddensee nicht dem Schicksal aller Inseln entgeht, ein Ort der Alten zu sein. Unterm Rosenhimmel des Kirchenschiffs schwebt der Taufengel aus Lindenholz, fröhlich bauernbarock, doch nur wenige Kinder werden noch auf Hiddensee geboren. Und die werden später die Insel verlassen, für einen Ausbildungsplatz, für eine eigene Wohnung, für ein bisschen Weltläufigkeit.

Der Pastor hingegen, groß, schlank und noch ein wenig nervös, ist erst vor einem Jahr auf die Insel gekommen. Er predigt heute Morgen von Ewigkeit. In seiner Amtsstube steht die Uhr noch auf Sommerzeit. Seine erste Saison sei „nur so vorbeigerauscht“, sagt der 44-Jährige, der ohne Talar viel jünger aussieht. Ewigkeit ist für Pastor Konrad Glöckner ohnehin kein lineares Zeitmaß, sondern das, was dem Leben Gewicht verleiht. Gerade in dieser schnelllebigen Zeit. Und es ist diese Sehnsucht nach Ewigkeit im gegenwärtigen Moment, die die Menschen auf die Insel treibt. Besonders im Winter. „Dann ist das Ablenkungsangebot hier äußerst beschränkt“, sagt der Pastor, „und man ist der überwältigenden Natur ausgesetzt.“ Das hat therapeutische Wirkung.

Die Antwort auf die Frage, wie das so entfremdete Leben wieder heil werden kann, liegt für den Pastor natürlich in der Beziehung zu Gott. Und Gott scheint einem hier unter dem hohen Himmel so nah zu sein. Die Spaziergänger am Strand, einzeln, selten zu zweit, gehen immer wieder dieselben Wege, doch immer in einem anderen Licht, immer bei anderem Wetter, um so im ewig Gleichen das Neue zu entdecken und „stolpern dabei über die eigene Seele“, wie Pastor Glöckner es ausdrückt.

Man kann sich hier nicht entrinnen. Die Tage bedeutungsschwerer Ereignislosigkeit werfen die Menschen auf sich selbst zurück. Das hat Tradition. Schließlich war Hiddensee im Mittelalter eine Klosterinsel, ein Ort der Meditation also, wo man im Wechsel von Beten und Arbeiten, in Wiederholung und Gewohnheit gelebt hat. Heute nennt man das Erholungswert. Mit dem Fahrrad den Deich rauf- und runterkurven, langsam über die Hochuferwiesen spazieren, vom schroffen Kliff im Norden zu den flachen Salzgraswiesen im Süden – da brechen mitunter lange nicht mehr gestellte Sinnfragen auf.

Wie der einsame Mönch am Meer starrt Hendry Max auf das Wasser. Der Unternehmensberater aus Frankfurt am Main stellt sich aber weniger die Sinnfrage, er sucht Bernstein. Dafür steigt er in seinem Ölzeug sogar bauchnabeltief in die Wellen und fischt mit einem Köcher honiggelbe Klümpchen an Land. Jedes Jahr dasselbe Ritual, dabei mehr Suchen als Finden sein Motiv. Und das Alleinsein in Stille. Tage ohne Plan. Nach einer Woche fühlt er sich völlig entspannt.

„In der Regel brauchen die Menschen heute mehr Zeit, um runterzukommen“, sagt Gurke, der Kellner vom Godewind. Das Lokal in Vitte, dem Hauptort in der Inselmitte, ist eine sichere, warme Winteradresse. Es könnte glatt als Berliner Szenekneipe durchgehen. Fenstertüren, viel Holz im Innenraum, Tageszeitungen, im Hintergrund singt Jonny Cash, am Tresen steht Gurke, eine Institution. Gurke, Jahrgang 54. Er kam Mitte der siebziger Jahre aus Gotha hierher, und sieht mit seinen langen Haarflusen wie der letzte Hippie von Hiddensee aus. Ein Typ, der zum Duzen verführt.

Wegen „Staatsverleumdung, Rowdytum und Widerstand gegen die staatlichen Maßnahmen“ hatte man ihn damals zu 14 Monaten verknackt. Danach gab es für ihn nur noch raus in den Westen oder ab auf die Insel. Hier war das Leben dann eine einzige Party. Die zwei Inselpolizisten haben ihn in Ruhe gelassen. Die Hiddenseer haben Gurke längst adoptiert. „Der passt hierher“, sagen sie. Der ist fleißig, zuverlässig und trinkfest. Der lässt sich auch nicht vom hektischen Strom der Zeit mitreißen. Und er ist ebenso froh wie wir, wenn die Insel endlich fast menschenleer ist. „Da bekommt man den Kopf wieder hoch.“

„Gurke, noch einen Schoppen.“ Bürgermeister Manfred Gau (Bürger für Hiddensee), seit mehr als sechzig Jahren der erste einheimische Ortsvorsteher, möchte auch gern zur Ruhe zu kommen. Der Sommer war hektisch. Wieder haben etwa 300 000 Tagesbesucher die kleine Insel überschwemmt, die 62 000 Übernachtungsgäste nicht mitgezählt. Auch 400 Nebenwohnungen sind auf der Insel inzwischen registriert. Bei anhaltender Nachfrage. „Selbst Joop sucht hier jetzt ein Häuschen“, erzählt Manfred Gau. Und das insbesondere wegen fehlender saisonverlängernder Angebote. „Die gibt es doch inzwischen überall, warum sollte man dann noch nach Hiddensee fahren?“

So ist kein Spaßbad geplant, nicht einmal ein Kino. Allenfalls der Bau eines Mehrzweckgebäudes mit Sporthalle, auch damit die Hiddenseer wieder Platz für Familienfeiern haben. Nachdem Gau nun den Hiddenseer Pferdemistkrieg gewonnen hat (die Fuhrunternehmer, die Fürsten der autofreien Insel, müssen jetzt auf eigene Kosten die Pferdeäppel beseitigen lassen), könnte er eigentlich ganz zufrieden sein. Doch das Verwaltungsgericht Greifswald hat die jüngsten Kommunalwahlen für ungültig erklärt. Der Gegenkandidat von der CDU wirft Gau Verletzung der Neutralitätspflicht vor. Dabei habe er doch nur für die Insulaner die Bus-Fahrtkosten zum einzigen Wahllokal auf der Insel übernehmen wollen. Wird das Urteil rechtskräftig, stehen im Frühjahr Neuwahlen an. Und ob die Insulaner sich dann noch einmal auf die Beine machen werden, ist fraglich. Wenn Gau sein Ehrenamt verliert, hat der alte Seemann immer noch genug zu tun: als Kapitän auf der Hiddenseefähre und mit der Vermietung der Ferienwohnung in seinem Haus gleich hinterm Deich. Da hört man noch im Schlaf die Wellen tosen.

Jeder auf Hiddensee verdient sich sein (Zu)Brot mit Zimmervermietung. Deshalb sind natürlich alle froh, wenn die Feriengäste wiederkommen. Doch erst einmal atmet die Insel auf. Im Gemeindehaus von Kloster klönt der Frauenkreis bei Kaffee und Keksen. Insulaner bei der Regeneration. Wenige Schritte weiter hämmert Hubert Thürke Bohlen in seinen Boddensteg. Wie es ihm geht? „Beschissen“, sagt der letzte Fischer von Kloster und grinst so breit, dass sein wetterbraunes Gesicht Falten schlägt. Schlechte Zeiten. Miese Preise. Für Hering und Flunder gibt es jetzt weniger als 20 Cent pro Kilogramm. Dafür wird der Sprit immer teurer. „Ein Kollege von mir hat vergangenen Monat 23 Euro verdient.“ Und die große Seefischerei macht die kleinen Fischer kaputt. Von einst 65 Hiddenseer Fischern fahren nur noch 18 aufs Meer hinaus. Hubert gibt der Fischerei auf Hiddensee noch fünf bis zehn Jahre. Er selbst hält sich mit Fischräucherei über Wasser. Hinter der „Alma“, seinem zwölf Meter langen Kutter, schaukelt „Willi“, eine umfunktionierte Hafenbarkasse. Hubert macht alles selbst: Fischen, Räuchern, Reparieren und Heringssalat. Ein Einzelgänger mit Energie. Er ist der einzige der Hiddenseer Fischer, der sich während der Hauptsaison derart vermarktet. Die verblichenen Goldpapierbuchstaben „Herzlich Willkommen“ an Bord der „Alma“ sind nur ein schwacher Abglanz des guten Sommergeschäfts. Sogar auf Englisch preist der Speisezettel die Gerichte. „Auch so eine EU-Bestimmung.“ Hubert lacht laut und schwingt sich auf sein Fahrrad wie ein Cowboy aufs Pferd. Krummbeinig, die Ellenbogen leicht abgespreizt, die Lenker wie Zügel haltend, radelt er in den Sonnenuntergang davon.

Noch einmal brechen Sonnenstrahlen durch die eisgraue Wolkenwand und ein orangefarbener Streifen entflammt den Horizont. Insel des Lichts. Für den Wanderer Poesie des Augenblicks. Für Maler ewiges Motiv. Für Meteorologen reine Physik: das viele Wasser ringsum, die Wolken, die Reflektion. Juliane Pestel hat nicht viel Zeit, auf Fragen zu antworten. In wenigen Minuten muss die Aufzeichnung für den NDR-Wetterbericht fertig sein. Wie jeden Nachmittag. Bei jedem Wetter. Auch bei Windgeschwindigkeit von 150 Stundenkilometern. Schnell Kamera, Scheinwerfer, Mikro aufgestellt. Sprechprobe, noch mal die blonde Mähne gekämmt. Aufgeregt? „Ach wo, schließlich beobachte ich seit heute Morgen um vier Uhr das Wetter, da sitzt der Text.“

Auch die Kulisse ist perfekt: Im Hintergrund beleuchtet die Abendsonne den Leuchtturm. Kalter Wind weht über Hiddensees Hochland, zerrt an Ginsterbüschen und fahlem Gras. Noch fünf Minuten. Fertig. Von Kachelmanns Wetterstudio im Vitter Hafen aus wird der Beitrag per Internet verschickt. Es bleibt nur eine winzige Pause, bevor Juliane zum nächsten Interview unter Kopfhörern verschwindet. Schnell noch eine Frage: Welche der Ostseeinseln ist denn nun die mit der längsten Sonnenscheindauer? Hiddensee, na klar. Selbst im Winter. 2168 Stunden übers vergangene Jahr. Je kleiner und schmaler eine Insel ist, auf desto weniger Fläche kann warme Luft Feuchtigkeit sammeln. Dazu weht ein günstiger Wind. Und wie wird das Wetter in diesem Winter? Oh, keine verbindliche Prognose. „Doch ich habe im Gefühl, dass es einige eiskalte Tage geben wird, ohne Schnee“, sagt die Wetterfee. Wer dann auf Hiddensee allein ist, kann es lange bleiben.

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