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© vario images

Kleinwalsertal: Der Regenschirm wächst am Weg

Mit dem Flieger (fast) bis zur Alm: Für Berliner Wanderer ist das Kleinwalsertal nah gerückt.

Der Regen prasselt auf den Rücken der Kuh, als wolle Petrus den Bauern helfen das Tier mal wieder richtig zu säubern. Etwas Farbe – so scheint es – hat er dabei gleich mit herausgewaschen. Am Hals und an der Stirn ist die Wiederkäuerin schon ganz weiß, und der Bauch wölbt sich hinter einem ausgewrungenen Grau. „Das ist Braunvieh“, sagt Daniela, die Wanderführerin, und stiefelt weiter bergauf durch aufgeweichte Erdklumpen, die sich mit flüssigen Kuhfladen mischen. An so einem Tag wären Gummistiefel keine schlechte Wahl.

Eigentlich wollten die Wanderer dem Berliner Regen entkommen und sind morgens in den Flieger nach Memmingen gestiegen, um drei Stunden später die Gipfel des Kleinwalsertals zu erklimmen. Im Sonnenschein, versteht sich. Jetzt hüllt sich der exakt 2536 Meter hohe Widderstein vor ihnen in Wolken, so als würde er sich des tristen Wetters schämen.

„Hallo, ihr Helden“, begrüßt Sabine die tapferen Matschwanderer. In der Alpstube ist es warm, und die Buttermilch schmeckt köstlich. An der Wand hängen jene Kuhglocken, die die Tiere bei den Festtagsumzügen schmücken. Während die Regenjacken über den Stühlen trocknen, erzählt die Hüttenwirtin die Geschichte des Bärgunttals – das erstmals 1059 urkundlich erwähnt wurde – und ihre eigene gleich mit.

Die gut gepolsterte Frau mit schwarzer Strubbelfrisur stemmt die Arme in die Hüften. „Ich hätte nie geglaubt, dass ich nach meiner Ausbildung im Hotel mal auf einer Alp landen würde.“ Jetzt bewirtschaftet sie die 400 Jahre alte Hütte mithilfe eines Mitarbeiters. In den Ferien sind auch ein paar Kinder da, die sich hier ein Taschengeld verdienen. Sabines Bruder kümmert sich um das Vieh. „Im Hochsommer sind wir Halbnomaden“, lacht sie, „dann wandern wir mit den Rindern zwischen drei verschiedenen Almen hin und her, damit die Tiere saftiges Gras fressen können.“

Wenn Sabine ihre Freunde im benachbarten Schröcken besuchen will, muss sie erst nach Deutschland fahren. Denn das Bärgunttal liegt am Ende des Kleinwalsertals und ist umzingelt von über 2000 Meter hohen Bergen und damit vom übrigen Österreich abgeschnitten. Per Auto kann man es nur von Deutschland aus über Obersdorf erreichen. Neuerdings ist man jedoch von Berlin schneller im Kleinwalsertal als von München. „Morgens in den Flieger – mittags in den Bergen!“, lautet der neue Werbespruch des Tals. Eine schöne Sache, wenn das Wetter mitspielt.

Immerhin hellen sich die Wolken am Nachmittag auf, die Sonne schimmert durch. Daniela holt ihren langen schwarzen Zopf unter der Schirmmütze hervor. Wenn ihr walserisches Idiom nicht wäre, könnte man sie für eine südländische Schönheit halten. Sie zeigt auf die klodeckelgroßen Blätter des Alpenampfers am Wegesrand. „Hier wachsen die Regenschirme für den nächsten Schauer“, lacht sie, zupft ein Blatt heraus und hält es sich über den Kopf.

Unzählige Regenschirme weiter grasen Bergrinder mit hellem Fell am Wanderpfad. „Das ist Grauvieh“, sagt Daniela. Dann erklärt sie, dass die Farbe der Kühe nichts mit der Rassenbezeichnung zu tun hat. Es komme „auf den Rahmen“ an. Damit meint sie den Körperbau. Ein Hirtenjunge springt herbei, ruft „How, how, how“ und treibt die Kühe davon, bevor der Wanderer sich die Tiere genauer ansehen kann. Bei Kindern ist der Hirtenjob sehr beliebt. Es gibt dafür Geld vom Staat, damit der Beruf nicht ausstirbt.

Der Weg führt weiter über die Ochsenscharte. In früheren Zeiten soll hier ein Schmuggler die Zollbeamten ausgetrickst haben: Er versteckte Butter und Tabak unter den Latschenkiefern und lud stattdessen einen Ameisenhaufen in den Rucksack. Im Zollhaus ward ihm befohlen, ihn zu leeren. Er tat es und soll daraufhin nie wieder kontrolliert worden sein.

Die Nacht in der Schwarzwasserhütte ist ruhig. Es regnet nicht mehr. Am nächsten Tag hat sich endlich die Sonne die Vorherrschaft erkämpft. Westlich erhebt sich das gut 2200 Meter hohe Gipfelplateau des Hohen Ifen wie ein Tafelberg. Von dort oben hat man einen grandiosen Blick auf das Gottesacker – eine eigenartige Steinwüste mit tiefen Spalten, durch die Wasser in unterirdische Höhlen sickert. Es soll mit 25 Quadratkilometern das größte Karstgebiet der Alpen sein. Eine Überquerung wird nur routinierten Bergwanderern empfohlen.

Wir Anfänger laufen lieber ins Tal nach Riezlern und probieren dort Grau- und Braunvieh als „Fleischbolla vom Rend“. Was sich für Unwissende nach Imbissbudenschmaus anhört, ist ein Filetsteak vom Feinsten mit Romadurkäse auf Lauchzwiebelkonfit und wird im Traditionslokal Walserstuba serviert. Der Koch Jeremias Riezler wurde kürzlich vom Gourmetführer Gault Millau erneut mit einer Haube ausgezeichnet. Im Restaurant mit den niedrigen Deckenbalken und den karierten Tischdecken prostet die weißhaarige Mutter Ulrike im Dirndl den Gästen zu: „Zum Wöhele, zum Wöhele“, nippt am Enzian und fängt an zu jodeln. Ein letzter Schluck, dann steht das Taxi vor der Tür, das die fliegenden Wanderer wieder zum Airport bringt.

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