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Tallinn

© ddp

Estland: Der Cyberstaat

Seit dem 13. Jahrhundert war Estland fremdbestimmt. Seit 16 Jahren ist es unabhängig. Und nun boomt es und boomt und boomt.

Sein Auftritt ist James-Bond-würdig. Rasant gleitet Jaan Manitski mit dem Motorboot übers Meer, er kommt gerade von der kleinen Insel Mohni. Mehr als 1500 Inseln gibt es in Estland, diese ist sein Eigentum. Schon von weitem winkt er dem Gast zu. Am Jachthafen des Fischerdorfes Viinistu springt er aus dem Boot, hilft seinen befreundeten Mitfahrern hinaus. Schreitet wie ein Model über den Pier, streicht sich noch einmal durchs Haar und ruft dann: „Willkommen am Ende der Welt!“

Die Bucht von Viinistu ist die nördlichste Spitze Estlands und damit nach Jaan Manitskis Definition nicht nur geografisch das Ende der Welt, sondern auch, was Zivilisation und Kultur angeht. Er zeigt aufs Meer. „Dahinter“, sagt der 65-Jährige, „dahinter ist nur noch Finnland.“ Jeder in Estland kennt Manitski: In den 70er Jahren war er Finanzmanager der schwedischen Popband ABBA, ab 1992 Außenminister Estlands und später Chef der estnischen Treuhandanstalt. Seit Mitte der 90er Jahre investiert er Teile seines Millionenvermögens darin, sein Heimatdorf Viinistu zu retten. Dafür ließ er die brachliegenden Hallen der ehemaligen Fischereikolchose zu einem Kulturkomplex umbauen. 30.000 Besucher kamen diesen Sommer schon in das entlegene Dorf.

Natürlich verfügt nicht jeder in Estland über so viel Kapital wie Manitski, dennoch boomt das Land am vermeintlichen Ende der Welt: Der kleine Staat wird als „baltisches Hongkong“ und die „westlichste Republik Osteuropas“ gefeiert. Wirtschaftswachstumsraten in zweistelliger Höhe, Lohn- und Einkommensteuern von gerade mal 22 Prozent, es gibt mehr Mobiltelefone als Einwohner, Parkgebühren können per SMS bezahlt werden, jeder Bürger hat per Gesetz das Recht auf kostenlosen Zugang zum Internet, und im März konnten die Esten als weltweit erste Nation bei den landesweiten Parlamentswahlen ihre Stimme online abgeben.

In E-Estland, wie sie ihr elektronisch geprägtes Land nennen, existieren fast so viele Jungunternehmer wie Inseln und etliche zielstrebige Politiker wie Urmas Paet. Der 33-Jährige ist seit 2005 Außenminister und war zuvor schon Kulturminister. Der Zusammenbruch der Sowjetunion und die Unabhängigkeit Estlands 1991 boten besonders der jungen Generation eine Chance: Die alten Regeln galten nicht mehr, alles fing bei null an. Also probierten sie sich aus, gingen ihren eigenen Weg. Auch 16 Jahre später scheint in diesem Land alles möglich zu sein. Zumindest sind die Esten sehr geschickt darin, ihr modernes Image im Ausland zu vermarkten. Erst vergangene Woche kürte „Der Spiegel“ die estnische Hauptstadt Tallinn neben Dublin und Kopenhagen zu einer der „coolsten Städte Europas“.

Tallinn – die alte Hansestadt gilt als heißeste Partymeile und Metropole voller Schönheiten. Nun, im August, flanieren viele Estinnen in gewagten Hot Pants und High Heels über die engen kopfsteingepflasterten Gassen der Altstadt und könnten dabei glatt als jüngere Schwestern der US-Stilikone Gwen Stefani durchgehen. Die schönen Estinnen lockten Mitte der 90er auch Sextouristen hierher, seit dem 21. Jahrhundert kommen die Skandinavier und Briten vor allem wegen des günstigen Biers und Wodkas. Letzterer wird in Tallinns Supermärkten sogar im praktischen Zweiliter-Tetrapack verkauft. Doch nun, da mit dem estnischen Wirtschaftsaufschwung die Preise steigen, ziehen die sogenannten „Wodkatouristen“ weiter zur nächsten, billigeren Partycity.

Der Stadt Tallinn ist das nur recht. Schließlich orientiert sich das Tourismus-Department in Richtung Kultur: Neben der Hanse, die in der Altstadt durch Restaurants und mittelalterliche Märkte lebendig gehalten wird, wirbt Tallinn mit seinen Kirchen, den prächtigen Parks im Viertel Kadriorg und dem 2006 eröffneten Kunstmuseum „Kumu“. Neue Fünf-Sterne-Hotels wie das Telegraaf, im ehemaligen Telegrafenamt, sollen ebenfalls zeigen, wohin die Reise der Europäischen Kulturhauptstadt 2011 geht.

Während sich das Tallinner Volk wie seit Jahrhunderten in der Unterstadt tummelt, wird die Politik hoch oben auf Toompea, dem Domberg, betrieben. Unweit des Parlaments liegt in der verwinkelten Gasse Rahukohtu tänav das Stenbock- Haus. 1792 ließ der schwedische Adlige Jakob Pontus Stenbock es als Gericht bauen, heute ist es der Amtssitz von Premierminister Andrus Ansip. Die knarrenden Holzfußböden und hohen Säle verleihen dem Haus eine besondere Würde. Im größten Saal des Westflügels werden die Kabinettssitzungen abgehalten. Auf dem Tisch von Ansip liegt ein Holzhammer, wie man ihn aus Gerichtssälen kennt. Wenn das Kabinett etwas beschließt, schlägt er damit auf den Tisch. Ansonsten ist der Saal mit neuester Technik ausgestattet, ganz im Sinne E-Estlands. 2000 war es das weltweit erste Land, das seine Kabinettssitzungen online abhielt.

Seitdem hocken die Minister an Sitzungstagen nicht mehr vor Aktenbergen, sondern vor ihren Bildschirmen. Schneller, effektiver, transparenter und günstiger – das sind die Schlagwörter, die zu E-Government immer wieder zu hören sind. „Durch unsere E-Kabinettssitzungen sparen wir pro Jahr fast 200.000 Euro an Papier- und Kopierkosten“, sagt Aivar Rahno, der Direktor der Abteilung Regierungssitzungen im Stenbock-Haus. Er führt den Gast durch den Kabinettssaal und fährt zur Erläuterung des Systems einen Laptop hoch. Jeden Dienstag treffen sich der Premier und seine Minister hier, um zum Beispiel über neue Gesetzesentwürfe zu diskutieren. Im internen Computersystem sind alle Dokumente hinterlegt, meist haben die Minister vorab schon ihre Kommentare dazu verfasst. So ist jeder genau informiert – lange, zeitraubende Diskussionen finden kaum noch statt. Abgestimmt wird per Mausklick. „Ist ein Minister gerade im Ausland, kann er trotzdem per Laptop an der Sitzung teilnehmen.“ Die Registrierung erfolgt mit der ID-Card, die in den Rechner geschoben wird und so die digitale Signatur ermöglicht.

Rahno wendet sich vom Laptop ab und öffnet die Terrassentür. „Wenn Sie schon mal hier sind, sollten Sie die einmalige Aussicht genießen“, sagt er. Von der Terrasse im Stenbock-Haus blickt man über die Stadt und auf das Westmeer – wie die Ostsee hier genannt wird. Bei gutem Wetter soll in der Ferne Finnland zu sehen sein. Gerade mal 85 Kilometer ist Helsinki von Tallinn entfernt. Die Finnen und Esten verbindet seit jeher eine enge Freundschaft: beide Sprachen sind finno-ugrischer Abstammung, ihre Kulturen ähneln sich, und selbst die Melodie der Nationalhymnen ist identisch. Auch zu Sowjetzeiten konnten die Esten finnisches Fernsehen empfangen und hatten so ihr Fenster zur freien Welt. Nach 1991 waren die Nachbarn genau wie die Schweden Vorbild und Förderer.

Sie investierten in den Aufbau der Infrastruktur. Denn die gab es Anfang der 90er Jahre kaum: sowohl, was das Bankwesen, als auch, was die Telekommunikation betrifft. Natürlich engagierten sich die Finnen nicht völlig uneigennützig. In Estland konnte einfach günstiger produziert werden, Nokia etwa lässt hier Teile seiner elektronischen Produkte herstellen. Inzwischen kaufen die finanzstarken Esten auch finnische Firmen auf – wie die große Fährlinie Tallink.

Nicht nur die estnische Regierung ist vernetzt, seit 2000 sind alle Schulen online, und im ganzen Land gibt es mehr als 700 öffentliche Internetpunkte, etwa in Bibliotheken – selbst in strukturell schwächeren Regionen wie im Osten Estlands entlang des Peipus-Sees. Viele der meist russischstämmigen Bewohner leben dort noch in uralten Holzhäusern, doch auch in diesen Dörfern stehen am Straßenrand die Hinweisschilder mit dem @-Zeichen. Die Frage ist nur, ob die alten Mütterchen, deren Umfeld eher an die Zarenzeit erinnert, diese Möglichkeit tatsächlich nutzen. Denn: So sehr das Land seinen E-Hype pflegt, nicht jeder kommt mit.

Dennoch sollen 2005 bereits 82 Prozent der Bürger ihre Steuererklärung online abgegeben haben. Bestätigt wird sie mit der ID-Karte, die in vielen Bereichen den Personalausweis ersetzt. In kleinen Gesellschaften wie Estland mit gerade mal 1,35 Millionen Bürgern ist so eine digitale Umwälzung sicherlich leichter zu bewerkstelligen, doch die jungen Esten sind auch technikaffin. So verwundert es nicht, dass die Internet-Telefonfirma Skype, die ihr Hauptquartier zwar in Luxemburg hat, ihre Entwicklungsabteilung nach Estland verlegte. Die moderne Technologie kam dem vernetzten Land auch während der Krawalle um die Umsetzung des sowjetischen Kriegerdenkmales im April zur Hilfe. „Bitte verlassen Sie nicht das Haus. Bleiben Sie ruhig und lassen Sie sich nicht provozieren“, schrieb die estnische Regierung ihren Bürgern per SMS am frühen Abend des 27. April, dem Tag nach den ersten Ausschreitungen. Eine ähnliche Bitte versendete sie per E-Mail.

Kaum ein Thema löst bei den sonst eher stoischen und zurückhaltenden Esten so viele Emotionen aus wie die Ereignisse vom 26. und 27. April 2007. An diesen Tagen begann die Polizei am Rande von Tallinns Altstadt mit der Versetzung eines sowjetischen Kriegerdenkmales. Bereits im Vorfeld hatte der russische Präsident Wladimir Putin persönlich gedroht, die diplomatischen Beziehungen seien in ernsthafter Gefahr, wenn die Esten das Monument verlegen würden. Und so wurde der Abbau vor allem von jungen, russischen Demonstranten begleitet. Die Polizei ahnte, dass es zu Krawallen kommen könnte, am Abend kreisten Hubschrauber über das Gelände, und dennoch waren sie nicht auf das Ausmaß der Gewalt vorbereitet. In der Nacht eskalierte die Demonstration: Ein Russe starb, hunderte Demonstranten wurden verletzt und verhaftet, betrunkene – meist russischstämmige – Jugendliche plünderten Dutzende Geschäfte. Zigaretten, Alkohol, Boss-Anzüge oder sogar Blumen nahmen sie mit.

In diesen Aprilnächten wurde Tallinn, die sonst so liebliche Stadt mit ihrem mittelalterlichen Wehrtürmen und dem wilden Partyleben, zur Krisenregion. Tagsüber machten die Esten einfach weiter. Die Buchhandlung „Kehrwieder“ öffnete trotz zerschlagener Fensterscheiben, nach dem Motto: Nie wieder lassen wir uns von Russen abhalten. Die Esten sind Patrioten. Seit der Unabhängigkeit wird in Tallinn jeden Morgen bei Sonnenaufgang hoch oben auf Toompea am estnischen Parlament die Flagge gehisst. Dabei erklingt aus großen Lautsprechern die Nationalhymne.

Nach einigen Wochen beruhigte sich die Lage wieder: Die Polizei habe wie Berserker auf die Demonstranten eingeschlagen und so die Wut geschürt, sagen die einen. Die anderen sind sich sicher, dass Moskau die Unruhen in Auftrag gegeben hat und auch hinter der Cyberattack steht, die Estland später kurzzeitig lahmlegte. Der Umgang mit der sowjetischen Vergangenheit erhitzt die Gemüter bis heute. Immer noch machen die Russen (26 Prozent), Ukrainer und Weißrussen fast ein Drittel der estnischen Bevölkerung aus. Viele sind Nachfahren in der Sowjetzeit angesiedelter Russen. Der Staat versucht sie zu integrieren, doch das gelingt nur teilweise. Auch im prosperierenden Estland gibt es Verlierer.

Jaan Manitski findet, dass sich sein Nachfolger als Außenminister, Urmas Paet, und die gesamte Regierung während der Krawalle richtig verhalten haben. „Es kann doch nicht sein, dass viele der Russen sich nicht integrieren wollen. Und unsere Sprache nicht lernen wollen.“ Wie an nahezu jedem Ort Estlands hat die mehr als fünfzig Jahre währende russische Okkupation auch in seinem Heimatdorf Spuren hinterlassen. Über 500 Menschen lebten einst in Viinistu, das 70 Kilometer nordöstlich von Tallinn und mitten im Lahemaa-Nationalpark liegt. Heute sind es noch 150. Etliche Anwohner starben während des Zweiten Weltkrieges, weitere flüchteten – wie Manitskis Familie 1943 – vor der Roten Armee oder wurden nach Sibirien verschleppt. Zu Sowjetzeiten war der ganze Nationalpark Sperrgebiet, Zutritt hatten nur Anwohner und Esten mit Sondergenehmigungen. Um eine Flucht übers Meer ins nahe gelegene Finnland zu verhindern, patrouillierten an den Stränden Soldaten. Wenn es dunkel wurde, kontrollierten sie mit riesigen Scheinwerfern das Geschehen am Strand. Jeder Fußabdruck war potenziell verdächtig. Was eine alte Dame aus Viinistu in den 80er Jahren zu einem Scherz trieb. Im Winter, wenn die Ostsee an den Küsten über mehrere Monate zugefroren ist, bohren sich die Esten zum Eisfischen ein Loch ins Meer. Besagte Dame tat dies ebenfalls, nur dass sie einmal in genau denselben Spuren wieder zurückging, die sie beim Hinauslaufen auf das vereiste Meer hinterlassen hatte. So sah es aus, als wäre jemand durch das Eisloch geflüchtet. Die Sowjets untersuchten den Fall tagelang, irgendwann gaben sie auf.

Manitski liebt diese Anekdote und erinnert sich an seinen Job als Außenminister. „Während meiner Amtszeit haben wir den Abzug der russischen Truppen geregelt.“ Als 1993 Wahlen anstanden, bot ihm Präsident Lennart Meri einen weiteren Posten an, doch Manitski hatte längst neue Bestimmungen gefunden. Unter anderem wollte er Viinistu helfen. Nicht nur die Fischereikolchose lag brach, auch der Dorfladen musste schließen. Also ließ er den Kulturkomplex bauen, zu dem heute neben seinem „Kunstimuuseum“ mit der größten privaten Sammlung estnischer Kunst auch noch ein 100-Betten-Hotel mit Restaurant und Kongresszentrum, Tennisplätze und eine Freilichtbühne zählen. 30 Jobs schuf der Este so.

Viinistu mit seinen frisch gestrichenen Holzhäusern, die hier meist als Sommersitze dienen, erinnert an die alten Epochen. So modern die Esten auch sein mögen, ihr Volksglauben hat sich über all die Zeit bewahrt. Viele geben sich bis heute nicht über der Türschwelle die Hand, weil sie fürchten, sonst Feinde zu werden. Junge Estinnen stellen ihre Handtasche nicht auf den Boden, da sonst das Geld wegläuft, und im Haus pfeifen viele nicht, weil es sonst abbrennen könnte. Jaan Manitski selbst glaubt nur bedingt an all diese Regeln, doch am Ende des Abends will er noch einen besonderen Stein zeigen, vielmehr ist es ein riesiger Findling. Bei Sonnenuntergang spaziert er zum Strand, Hunderte der rund geformten Steine liegen entlang der Küste. „Hinter diesem Findling werden die Babys geholt“, sagt er. Auch seine Mutter ging hierher, um den kleinen Jaan abzuholen. „Ich bin der Mann, der hinter dem Stein hervorkam.“

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