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Die georgische Hauptstadt Tiflis.

© Imago /Ryhor Bruyeu

Queere Menschen aus Russland flüchten nach Tiflis: Unmut im vermeintlich sicheren Hafen

Nach Georgien fliehen verstärkt auch queere Russ*innen. Diese empfinden das Land als sicher. Die örtliche Community hat dagegen Angst – auch weil Russland LGBTI-feindliche Gruppen finanziert.

Das ist der Himmel hier, sagt Anna Gekht. Der Himmel, weil sie sich im Restaurant draußen eine Zigarette anzünden kann. Sie raucht genüsslich, atmet den Rauch besonders tief ein und aus. In Russland sei das im Außenbereich von Gaststätten schon lange nicht mehr erlaubt.

Was diesen Himmel trübt: Ihre Menthol-Zigaretten finde sie in Georgien nur in wenigen Geschäften. Die 29-Jährige lacht, sie lacht viel während des Gesprächs in Georgiens Hauptstadt Tiflis. Die 29-Jährige ist eine von geschätzt 30.000 Russ*innen, die seit Kriegsbeginn allein bis Juli nach Georgien gekommen sind. Seitdem sind es nochmal Zehntausende mehr. Das Kaukasus-Land ist relativ einfach zu erreichen, russische Staatsbürger können sich visumfrei bis zu einem Jahr dort aufhalten. In der Ex-Sowjetrepublik spricht insbesondere die ältere Generation Russisch.

All das war auch für die bisexuelle Anna Gekht, die mit ihrem Mann in einer offenen Ehe lebt, ausschlaggebend für ihren Neuanfang. „Ein Jahr, das ist erst einmal genug Zeit, um runterzukommen, um zu überlegen, wie wir weitermachen.“

In Tiflis angekommen sind sie am 29. Juni. „Seit Kriegsbeginn haben wir Geld gespart, sind nicht mehr in Restaurants oder Cafés gegangen.“ Mit zwei Koffern und zwei Taschen ist das Paar aus Sankt Petersburg mit dem Auto nach Georgien gefahren. Auf dem Weg telefonierte sie mit ihrem Vater, für den sie eine Verräterin ist. Seitdem haben sie keinen Kontakt mehr.

Acht Stunden mussten sie an der Grenze warten. „Die Beamten dort haben jede Socke überprüft“, erzählt Anna Gekht. Deshalb haben beide zuvor alle aus russischer Sicht verdächtigen Apps gelöscht.

30.000
Russ*innen sind seit Kriegsbeginn bis Juli nach Georgien gekommen

Denn Anna Gekht hat in Telegram-Gruppen über den Krieg, der in ihrer Heimat so nicht genannt werden darf, informiert, über Falschinformationen aufgeklärt, für die Ukraine gespendet. Genug Gründe, um verhaftet zu werden. Russland wurde ihr zu gefährlich.

Der Himmel ist Georgien für sie nicht nur, weil sie rauchen kann. Auch als offen queerer Mensch fühlt sie sich hier wohl. Wenn sie vom diesjährigen Pride-Fest spricht, schwärmt sie sogar von der Polizei. „Wir haben sie nach dem Weg zum Pride gefragt, sie haben ganz freundlich geantwortet. Das habe ich seit Jahren nicht erlebt.“

Anna Gekht in Tiflis. In Telegram-Gruppen klärte sie über Falschinformationen über den Krieg auf.
Anna Gekht in Tiflis. In Telegram-Gruppen klärte sie über Falschinformationen über den Krieg auf.

© Fabian Schäfer

Dabei verzichteten die Veranstalter*innen aus Sicherheitsgründen auf eine Demo, alle Events fanden drinnen statt. Erst im vergangenen Jahr musste die Demo abgesagt werden, nachdem queerfeindliche Gruppen Journalist*innen angegriffen und das Pride-Büro gestürmt hatten. Georgien, ein LGBTI-freundliches Land? Aus Sicht der russischen Exil-Community durchaus, die queere Community in Georgien dürfte das anders sehen.

Auch Alesia Duzenko spricht sofort die Polizei beim Pride in diesem Jahr an. „Ich war beeindruckt, dass sie den Pride beschützt haben.“ Dabei war der 30-Jährigen klar, dass Georgien nicht gerade den Ruf eines liberalen Landes hat. Dass sie irgendwann Russland verlassen muss, wusste die trans Frau schon lange. „Doch ich hätte nie gedacht, dass es so schnell gehen muss.“

Zwei Wochen nach dem Überfall auf die Ukraine haben sie und ihre Frau, mit der sie mittlerweile nicht mehr zusammen ist, beschlossen, Sankt Petersburg zu verlassen. Mit dem Zug sind sie nach Moskau gereist, von dort nach Novosibirsk geflogen, dann weiter ins armenische Jerewan, schließlich in den Flieger nach Tiflis. 48 Stunden dauerte die Reise.

Alesia Duzenko. Sie kam Anfang März nach Georgien.
Alesia Duzenko. Sie kam Anfang März nach Georgien.

© Fabian Schäfer

In ihrer Heimat hätte sie in die Armee eingezogen werden können. Da sie mit einer Frau verheiratet ist, konnte sie ihren Geschlechtseintrag nicht ändern. „Ich kann nicht zurück.“ Doch der Krieg hat auch hier unmittelbare Folgen für sie. Das Estradiol-Gel, das Teil ihrer Transition ist, gibt es in Georgien wegen Lieferbeschränkungen nicht mehr. Jetzt nimmt sie Tabletten, die jedoch stärkere Nebenwirkungen hätten.

Doch das nimmt sie in Kauf. Alesia Duzenko ist zufrieden hier, psychisch gehe es ihr viel besser als in Russland, sie blühe richtig auf. „Die Russ*innen hier sind so offen und freundlich. Da sieht man, wie ganz Russland auch hätte sein können, wenn alles in die richtige Richtung gegangen wäre“, sagt sie in einem Café mit alten Möbeln, Backsteinwand, ein bisschen Industrial Style. Ein junger Mann aus Belarus führt den Laden. Als Duzenko ihn sieht, steht sie auf, umarmt ihn zur Begrüßung und bestellt ihren Kaffee auf Russisch.

In Georgien steigen die Preise, Wohnungen sind schwer zu finden

In der Stadt hat sich inzwischen eine russische Parallelwelt gebildet. Es gibt russische Filmabende, Buchclubs, queere Events, Telegramm-Gruppen für russische Polyamouröse in Tiflis. Ein von Russ*innen geleitetes Restaurant bietet den georgischen Klassischer Chatschapuri in vegan an. Überall auf der Straße hört man Russisch.

Bei den Georgier*innen wächst der Unmut darüber. Die Solidarität mit der Ukraine ist gewaltig, blau-gelbe Flaggen säumen die Hauptstadt. Kein Wunder, das Schicksal der Länder ähnelt einander. Russland kontrolliert die von Georgien abtrünnigen Regionen Abchasien und Südossetien und damit rund 20 Prozent der Fläche Georgiens. 2008 kam es um die Regionen zu einem fünftägigen Krieg zwischen Russland und Georgien.

Fluchtort Tblissi (Tiflis).
Fluchtort Tblissi (Tiflis).

© PantherMedia / George Mdivanian

Dass die Meinung im Land gespalten ist, zeigt sich auch auf den mit Graffiti beschmierten Wänden: „Ruzzian go home“, aber auch „Not all Russians are Putin“ steht dort. Der Club Dedaena hat sein Gäste-Wifi umbenannt: Es heißt jetzt „PutinXuylo“, was mit „Arschloch Putin“ noch harmlos übersetzt wäre. Das zugehörige Passwort: Slava Ukraini, „Ruhm der Ukraine“.

Zur allgemeinen Skepsis Russland gegenüber kommen ganz konkrete Probleme, seit Zehntausende aus dem Nachbarland hier leben: Die finanzstärkeren Russen sorgen dafür, dass die Preise steigen, Wohnungen sind um ein Vielfaches teurer geworden, Studierende finden keine Unterkunft.

Und seitdem Russlands Präsident Wladimir Putin die Teilmobilisierung angekündigt hat, strömen noch mehr Menschen aus Russland nach Georgien. Insbesondere die queere Community des Landes ist darüber besorgt.

Rechte Gruppen in Georgien werden oft aus Russland finanziert

Unter denjenigen, die zuletzt kamen, könnten auch homophobe Russ*innen sein, befürchtet die queere Aktivistin Tekla Tevdorashvili. In Telegram-Gruppen von Immigrant*innen mache man sich teilweise über Georgien lustig, frage etwa, ob man das als Propagandazeichen genutzte Z auf dem Auto entfernen müsse, bevor man nach Georgien fährt.

Schließlich werden rechte, queerfeindliche Gruppen in Georgien häufig aus Russland finanziert. „Dass jetzt noch mehr Russ*innen zu uns kommen, könnte diese Gruppen stärken“, ergänzt die Aktivistin.

Oleg kann all das nachvollziehen. Der 24-jährige Russe lebt seit Anfang März in Tiflis, seit dem russischen Angriff auf die gesamte Ukraine hatte der schwule Web-Entwickler Angst, in die Armee eingezogen zu werden. Mehr als sieben Monate lebt er jetzt in Georgien, er fühlt sich freier als in seiner Heimat Kasan. „Doch sind die Russinnen und Russen an den hohen Preisen Schuld oder die Vermieter*innen, die sie verlangen – oder die Politik, die das Problem nicht lösen kann?“, fragt er.

Natürlich könnte er verstehen, dass viele in Georgien jetzt fordern, dass Russ*innen ein Visum für ihr Land brauchen. „Aber das trifft auch diejenigen, die Russland verlassen müssen.“ Er läuft an einem Graffito vorbei. „No Russian is welcome here, good or bad“, steht auf der Wand. Er ringt sich ein Lächeln ab, ihn störe das nicht.

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